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Ungeheurer Mut zur Lücke

Thüringer Oberstaatsanwalt sagt heute vor NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages aus

  • René Heilig
  • Lesedauer: 3 Min.
Heute hat der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages drei Zeugen aus Thüringen geladen: Einen Oberstaatsanwalt, einen Polizisten und den Vize des Landesverfassungsschutzes.

Oberstaatsanwalt Gerd Michael Schultz war bereits mehrmals Zeuge vor dem Erfurter Parlamentsausschuss. Der Grund: Er hatte dienstlich zu tun mit den Rechtsextremisten Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, die als Mitglieder des Nationalsozialistischen Untergrundes mordend durchs Land zogen und dabei von Beate Zschäpe sowie anderen Neonazis unterstützt wurden.

Als Dezernent für politische Straftaten in Gera hatte Schultz 50 bis 60 »normale« Fälle und zehn bis 20 Ermittlungen gegen gewalttätige Gruppen - fast ausnahmslos rechte - auf dem Tisch. Pro Monat! Es ging sogar um 129er-Verfahren, also um die Bildung terroristischer Vereinigungen. Schultz, der ja von Gesetzes wegen als Staatsanwalt Herr der Verfahren war, fällt so mancher Grund ein, weshalb fast alle erfolglos blieben.

Bisher ließen Schultz' ungeheuer große Erinnerungslücken den Verdacht aufkommen, dass ihm jemand von ministeriellen Höhen herab Hinweise zum Umgang mit dem Phänomen Rechtsextremismus zukommen ließ. Selbst wenn das so ist, es zuzugeben wäre Selbstmord. Mehr als nur ein Verdacht ist es, dass der Verfassungsschutz sehr interessiert war an der Arbeit der Staatsanwälte. Schultz hat den Geheimdienstlern alle Informationen gegeben, die die haben wollten. Bekommen hat er so gut wie keine. Regelmäßig »abgeschöpft« habe er sich gefühlt, gab er vor dem Erfurter Untersuchungsausschuss zu Protokoll. Und zwar nicht nur von Landesagenten, sondern auch vom Bundesamt und dem MAD.

Ein Agent des Landesamtes habe dem Staatsanwalt zu verstehen gegeben, dass er gefälligst die Hände vom Anführer der Thüringer Heimatschützer, Tino Brandt, lassen soll. Mario Melzer, der Polizist, der auch für heute geladen ist, erinnert sich, dass der Begriff »Hexenjagd« gefallen sei. Der Kriminalhauptmeister berichtete auch, dass ein für Brandts Verbrechen zuständiger Amtsrichter Besuch von zwei namenlosen Verfassungsschützern erhalten hat. Die erzählten dem Gerichtsmann so ganz nebenbei, die Nazis führten Todeslisten. Dass der Name des Richters erfasst war, könnte sein zurückhaltendes Agieren in der Verhandlung erklären.

Ist das möglich? Ja, besagter Brandt war der Top-V-Mann des Erfurter Dienstes. Fast immer, wenn Polizei und Staatsanwalt zur Beweissicherung bei dem Doppelzüngigen klingelten, war der bester Laune, frech und »sauber«. Seltsam unergiebig bleiben Telefonüberwachungen. Brandt wusste, wann, wer, wie, weshalb gegen ihn ermittelte. Alle 35 Verfahren gingen ins Leere. Das brachte nicht nur eine ganze Reihe von Polizisten, die nach dem 1998 abgetauchten NSU-Trio suchten, auf den Gedanken, dass Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe vom Verfassungsschutz gedeckt, wenn nicht gar geführt wurden. Quatsch sagen die Verantwortlichen. Ausgeräumt ist der Verdacht indessen nicht. Daran wird sich auch heute nichts ändern. Denn die Abgeordneten werden viel ins Blaue hinein fragen. Zwar sind alle den NSU-Fall betreffenden Thüringer Akten in Berlin, doch sie können - ob des Einspruchs der Innenbehörden anderer Länder - nicht von den Mitgliedern des Untersuchungsausschusses eingesehen werden.

Das soll der Sonderermittler Gerhard Schäfer, der auch schon in Erfurt einen engagierten und doch lückenhaften Bericht über das behördliche Versagen erarbeitete, besorgen. Schäfer arbeitet gewiss gründlich, also langsam. Sicher auch zu langsam, um beim Formulieren der richtigen Fragen an Thomas Sippel zu helfen. Der war bis Mitte 2012 Thüringer Verfassungsschutzchef und hat eine Ladung für die kommende Woche.

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