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Emanzipation leben lernen

Das Berliner Beratungskollektiv ProSys begleitet Gruppen und Wohnprojekte in Konfliktsituationen

  • Haidy Damm
  • Lesedauer: 6 Min.

Vier Frauen. Ein Kollektiv. Jede Menge politische und persönliche Erfahrungen durch eigenes Erleben und durch Aus- und Weiterbildung. »Angefangen haben wir vor sechs Jahren zu dritt, alle waren bereits seit Jahren in der Beratungsarbeit tätig«, erzählt Olivia Santen. Die Mediatorin lächelt und nimmt nach einem Schluck Tee den Faden wieder auf. »Aber wir waren alle auf der Suche nach mehr Austausch.« Am Ende stand das Kollektiv »ProSys - Prozess orientiert - System hinterfragend«.

Einen gemeinsamen Beratungsraum haben sie noch nicht, deshalb treffen sie sich privat: An diesem Morgen gibt es Butterbrezeln und Obstsalat, die Wintersonne scheint durch die Dachfenster. Seit knapp zwei Jahren sind sie zu viert, neben Olivia Santen sind Uschi Volz-Walk, Claudia Orlowsky und Antonie Armbruster-Petersen mit im Boot. Letztere macht gerade eine Pause. »Auch das gehört für uns zum kollektiven Arbeiten, eine muss auch mal was anderes machen können«, erklärt Uschi.

Das Beratungskollektiv begleitet linke Gruppen und Einzelpersonen, Familien oder Organisationen in Konfliktsituationen. Einer ihrer Grundsätze: »Emanzipation bedeutet Befreiung von Prägungen, die Machtmissbrauch, Unterdrückung und Gewaltverhältnisse und Ausbeutung mit sich bringen. Die emanzipatorische Chance im Konflikt liegt darin, prozesshaft in Richtung von ›Befreiung‹ wachsen zu können.« Das gelte sowohl für Individuen wie auch für politische Gruppen oder Wohnkollektive. »Konflikte entstehen eigentlich immer, wenn sich Menschen zusammentun, um etwas gemeinsam zu erreichen«, sagt Uschi. Nur sei es für die meisten Menschen schwierig, mit ihnen umzugehen. Die 57-Jährige hat oft beobachtet, »dass wir bei Konflikten eher erstarren als aufblühen und lieber verdrängen oder flüchten«. Zwar sind in linken Gruppen mittlerweile viele Instrumente entstanden, mit Konflikten umzugehen, vermeiden lassen sie sich jedoch nicht.

Die Beratung arbeitet nach dem Ansatz der Selbsthilfe. Die Gruppe und die Möglichkeiten der Einzelnen werden gemeinsam herausgearbeitet. »Ich arbeite gerne so, dass ich mir gar nicht so viel vorher anhöre, sondern mir von der Gruppe erklären lasse, wie ein Konflikt gestaltet ist. Allein durch das Zuhören schälen sich Muster heraus,« erklärt Uschi, die als Heilpraktikerin für Psychotherapie seit Jahren Gruppen Mediation anbietet. Olivia arbeitet anders, die 53-Jährige lässt sich in Einzelgesprächen vorher beschreiben, wie ein Konflikt zustande gekommen ist. Gemeinsam ist allen, dass im offenen Gespräch die verschiedenen Methoden angeboten werden. »Je nachdem, was die Gruppe braucht«, sagt Claudia. Die Bandbreite ist vielfältig: systemische Aufstellung, Rollenspiele, Gesprächstherapie nach Rogers, Kommunikationsmethoden und Interventionstechniken (NLP). Nicht alle Methoden werden gemocht. »Manchmal schlagen wir auch etwas vor und versuchen es mit ›Leute, lasst euch doch mal drauf ein‹«, sagt Olivia. »Das klappt nicht immer.«

Konflikte als Chance begreifen

Wichtig sei, das Potenzial der Einzelnen und der Gruppe zu entdecken und prozessorientiert zu arbeiten. Das Prinzip ist das gleiche wie bei Einzelberatungen, erklärt Claudia. »Immer wieder muss das definierte Ziel reflektiert werden.« Hilfreich ist dabei, dass die Frauen selbst jahrzehntelange Erfahrungen mitbringen aus linken Gruppen und Wohnkollektiven. Zu ihren Erfahrungen zählen auch die schlimmen Momente: heftige Gruppenkonflikte, Gewalterlebnisse, schwere Krankheiten und psychische Zusammenbrüche. »Gerade deswegen können wir sagen, in Konflikten liegt auch eine Chance«, sind sich die drei Beraterinnen sicher.

Ein wichtiger Bereich - besonders für die Einzelberatung - ist das Coaching. Beratung in schwierigen Lebenssituationen, etwa Überforderung durch mehrere Jobs, Stress durch prekäre Arbeitsbedingungen oder dem üblichen Informationsoverkill und dann noch der Anspruch »Wir wollen anders, besser sein und noch die Welt verändern«. Ihr Ziel ist dabei nicht, dass die Menschen innerhalb der Gesellschaft wieder funktionieren, schon gar nicht im Sinne der Marktlogik. »Jeder Konzern, der etwas auf sich hält, bietet seinen Beschäftigten heute Mediation und Entspannungstechniken an«, erklärt Claudia. »Wir sagen zwar nicht generell, Karriere ist schlimm. Aber ein Coaching kann eben auch in die Richtung gehen, sich nicht darin zu verlieren.«

Dennoch, niemand ist unabhängig von der Leistungsorientierung in dieser Gesellschaft. »Gerade Linke sind oft besonders leitungsorientiert und haben sehr harte Umgangsweisen, auch wenn sich das in der jüngeren Generation positiv verändert hat«, sagt Uschi. »Wir haben oft eine strenge Moral, nach der wir vorgehen, andere beurteilen oder uns als diejenigen hinstellen, die es halt besser wissen. Auch wenn die Moral manchmal einen anderen Inhalt hat - emanzipatorische, revolutionäre Moral - so ist die Art des Umgehens leider nicht immer anders als die kritisierte kapitalistische Umgangsweise. Emanzipation wird sehr selten wirklich gelebt. Das ist kein Vorwurf, sondern eine Feststellung.« Kommt dann noch eine Bedrohung von außen hinzu, etwa eine Kündigung oder eine Räumungsandrohung, verschärft das oftmals unterschwellig vorhandene Konflikte.

Dabei geht es nicht darum, den Blick aufs Außen zu verlieren. »Manchmal werden Leute ruhiger und gelassener, wenn sie sich auf das Erlernen von Entspannungstechniken einlassen, in das Aspekte des Achtsamkeitstrainings einfließen. Das fördert die Konzentration auf sich selbst und verstärkt den Blick nach innen«, erzählt Claudia. »Wenn sie dann in Situationen kommen, in denen sie sich wehren müssen, können sie oft mit mehr Bedacht agieren. Das heißt nicht, dass sie dann weniger kämpferisch sind.« Denn es geht den Beraterinnen nicht darum, sich in der Gesellschaft einzurichten. Dieser Anspruch unterscheidet das Kollektiv grundlegend von anderen Beratungsstellen. Olivia: »Das sehen wir nicht als Label, aber es unterscheidet uns von anderen.«

Nach sechs Jahren gemeinsamer Arbeit ziehen die Frauen im April in eigene Praxisräume. Sie sind zwar klein, aber deswegen auch nicht so teuer. »Das lässt uns mehr Freiheit, denn große Räume könnten bedeuten, dass wir ökonomischer denken müssten. Und aus dieser Zwangslogik wollen wir ja gerade raus«, erklärt Olivia. Dabei hatten sie Glück, sie haben günstige Räume mitten im hippen Graefekiez gefunden, in der Dieffenbachstraße 39. Berliner Altbau, alter Baumbestand, eine der schönsten Straßen in Kreuzberg. Kleinere Gruppen können sie zukünftig dort beraten, für größere müssen sie weiterhin Räume mieten.

Ökonomische Zwänge vermeiden

Das Honorar wird solidarisch verteilt, kommt aber nicht wie bei anderen Kollektiven in einen Topf. Welche gerade Zeit und Interesse an dem Auftrag hat, übernimmt. Bisher können sie noch nicht davon leben, aber vielleicht irgendwann. Momentan kommt ihr Geld aus einem Gemenge verschiedener Jobs. Sie wollen auch nicht selbst zu sehr in ökonomische Zwänge geraten und jeden Auftrag annehmen müssen. »Manchmal stehen wir uns selbst ein bisschen im Weg: Die Annahme eines Auftrags wäre ökonomisch gut, aber wir wollen ihn nicht machen. Das passiert beispielsweise, wenn wir merken, die Mediation in dem Betrieb hat nur eine Alibifunktion; es wird in einem Konflikt auf Zeit gespielt und im Hintergrund werden ganz andere Entscheidungen getroffen«, berichtet Olivia. Uschi ergänzt: »Ich will auch aus Selbstfürsorge nicht jeden Auftrag annehmen, denn die Arbeit kostet auch Kraft und sie ist nicht alles im Leben.«

Bezahlt wird übrigens nach sozialer Staffelung. »Wir wollen Leute, die Hartz IV beziehen, nicht rauskicken. Andererseits arbeiten wir auch nicht zu Dumpingpreisen, schon um nicht unkollegial die Preise zu drücken«, sagt Claudia. Die 53-Jährige hat lange in einem Kreuzberger Praxiskollektiv gearbeitet und sich daneben ihrer Ausbildung als Heilpraktikerin und Entspannungspädagogin gewidmet. Manchmal ist ein Konflikt innerhalb einer Gruppe auch schneller gelöst als anfangs eingeplant. »Da sagen wir dann nicht: Pech gehabt, dass ihr schon fertig seid«, lacht Claudia. »Dann hören wir einfach früher auf, ohne das restliche Geld zu bekommen.« Ganz entspannt, ohne dem Druck der Marktlogik nachzugeben.

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