Eine Revolution braucht Organisationsstrukturen

Gespräch mit dem spanischen Aktivisten Chema Ruíz, der sich gegen Zwangsräumungen engagiert

  • Lesedauer: 8 Min.
Chema Ruíz war im politischen Rat der Vereinigten Linken Spaniens (Izquierda Unida, IU), ist Mitglieder der Kommunistischen Partei und kämpft zusammen mit der PAH für ein Recht auf Wohnen. Mit dem spanischen Aktivisten sprach Lara Hernández García.

Was ist die Plataforma de los Afectadas por la Hipoteca (PAH)?
Die Plataforma ist eine Gruppe von Leuten, die sich mit dem Ziel zusammengefunden haben, Wohnen als garantiertes Grundrecht durchzusetzen. Wenn du arbeitslos bist oder sie dir den Lohn gekürzt haben und du nicht weiter weißt, hast du zumindest einen Wohnraum für dich und deine Kinder und kannst dein Leben auf dieser Grundlage wieder neu organisieren. Wenn sie dir dieses Recht nehmen, ist das nicht nur ein ökonomisches Problem, es verletzt unmittelbar deine Menschenwürde.

Rückgrat der Gruppe sind direkt Betroffene: Sie können ihre Hypotheken nicht mehr bezahlen und sind von Zwangsräumung bedroht. Sie bilden den inneren Kreis der Organisierung und ihre Speerspitze. Darum herum hat sich eine ganze Reihe von Leuten gruppiert, die über ein Mindestmaß an sozialem Bewusstsein verfügen und meistens schon politische oder gewerkschaftliche Erfahrung haben.

Wo und wann ist die PAH entstanden?
Sie gründete sich 2009 in Barcelona aus der Bewegung »V de Vivienda« (W wie Wohnen) heraus, die schon länger vor der Finanz- und Immobilienblase und deren Folgen gewarnt hatte. Hinzu kamen AktivistInnen aus anderen Bewegungen wie etwa »Vivienda Digna« (Wohnen in Würde). Drei zentrale Forderungen der PAH sind schon von »V de Vivienda« formuliert worden: Ein Moratorium der Zwangsräumungen, eine Gesetzesreform, die die rückwirkende Zahlung von Hypothekenschulden möglich macht, um die Probleme dieser Familien zu lösen, und vor allem der Bau öffentlicher Sozialwohnungen.

Die PAH gewann Ende 2010 an Stärke, als etliche Zwangsräumungen in Murcia gestoppt wurden und ab 2011, als die erste Zwangsräumung in Madrid verhindert wurde - zur selben Zeit, als die Bewegung 15M auf der Puerta del Sol campierte. An dieser Verhinderung der Zwangsräumung nahmen über 1000 Personen teil. Die PAH wurde in den Medien bekannt, und endlich wurde das besondere Problem der Hypotheken breit debattiert.

Was ist so besonders am Problem der Zwangsräumungen und Vollstreckungen von Hypothekenverfahren in Spanien?
Im Unterschied zu anderen europäischen Ländern verlierst du in Spanien nicht nur dein Haus oder deine Wohnung, wenn sie dich brutal räumen. Sie verurteilen dich auch zu einer lebenslang gültigen Schuldknechtschaft. Ein über 100 Jahre altes Gesetz macht dies den Banken möglich. Die Zwangsvollstreckungen haben ein erschreckendes Ausmaß angenommen: Bisher sind es fast eine halbe Million, und mit weiteren eineinhalb Millionen sind die Gerichte noch beschäftigt. Es handelt sich nicht nur um eine dramatische soziale Situation für jede einzelne Familie - es droht immer noch ein Zusammenbruch des spanischen Finanzsystems. Dies hätte einen Dominoeffekt zur Folge, der die Eurozone auseinanderreißen könnte.

Wie ist die Kampagne Stop Desahucios (Stopp der Zwangsräumungen) entstanden?
Wir haben als Plataforma bei Zwangsräumungen wirklich danteske Situationen erlebt. Ich erinnere mich, wie sie das Haus einer Bekannten in Manoteras räumten. Ihre Töchter im Alter von zwei, vier und sechs Jahren waren dabei und das vierjährige Mädchen fragte ihre Mutter, ob sie sich schlecht benommen habe und sie deswegen aus ihrem Haus geworfen werden.

Stell dir die Situation dieser Mutter vor, wie sie das ihrer Tochter erklären sollte. Deshalb wollen wir das Ziel eines nicht-verhandelbaren Rechts auf Wohnraum erreichen. Auf dem Weg dahin gibt es viele dringende Forderungen, um das Problem der Verschuldung der Familien zu lösen und ihnen Unterkünfte zu organisieren. Tausende von Familien sitzen in Spanien auf der Straße; andere übernachten mit ihren Kindern im Auto oder sind vorübergehend bei Verwandten untergebracht. Die Politiker haben sich taub gestellt, obwohl wir sie immer wieder auf diese Situation aufmerksam gemacht haben. So entstand, neben einer Fülle anderer Ideen, diese Kampagne gegen Zwangsräumungen. Wir stellen uns den Gerichtsvollziehern in den Weg. Wir sagen ihnen, dass sie die Räumung nicht vollstrecken können, weil sie damit nicht nur eine Ungerechtigkeit begehen, sondern auch das Gesetz brechen. Wir stützen uns da auf Normen der spanischen Verfassung. Vor Kurzem wurde dies auch von einem europäischen Gericht bestätigt.

Wie klappt die Zusammenarbeit mit anderen Bewegungen?
Es mangelt nicht nur an einer Koordination aller Teilbereichsbewegungen, sondern - schwieriger und wichtiger noch - an einer Koordination mit den beiden anderen wichtigen Pfeilern dieses Kampfes: mit den Parteien und den Gewerkschaften. Die Izquierda Unida (IU, Vereinigte Linke) sollte die Entstehung dieses neuen starken politischen Subjektes stützen und die Forderungen in die politischen Institutionen tragen. Aber auch der traditionelle Kampf in den Fabriken sollte nicht vergessen werden.

Wie entwickelt sich das Verhältnis zwischen der institutionellen und der Bewegungslinken?
Es gibt Fortschritte. Ausgangspunkt war aber ein grundsätzlicher Bruch zwischen beidem: Für die »jungen« Leute liegt der Prozess des Übergangs zur Demokratie in Spanien schon lange zurück und sie finden ihn nicht so vorbildlich, wie er ihnen immer dargestellt wird. Und wir anderen, auch noch relativ jungen Leute, haben eine Enttäuschung nach der anderen mit der politischen Macht erlebt. Durch das spezielle Zwei-Parteiensystem in Spanien gibt es ein vermachtetes Wechselspiel zwischen PSOE und Partido Popular an der Regierung, welche die Interessen der Bevölkerung völlig vergessen haben. Aber auch diejenigen, die unsere Forderungen hätten stellen sollen, haben uns enttäuscht. Sie haben eine ängstliche, angepasste Haltung und agieren in vieler Hinsicht widersprüchlich. All diese sozialen Bewegungen sind entstanden, weil auf der Ebene der politischen Parteien keine Alternative in Sicht war.

Nach zwei Jahren 15M gibt es Annäherungen: Viele halten nun auch die Eroberung der institutionellen Macht wieder für wichtig. Zugleich will ein großer Teil der Bewegung weiter nichts damit zu tun haben. Damit die Annäherung vertieft werden kann, muss die IU Selbstkritik üben, die Unstimmigkeiten ihrer Politik angehen und sich trauen, einen Schritt vorwärts zu gehen. In einer Versammlung haben wir erreicht, dass nun von der Forderung nach einem »verfassungsgebenden Prozess« gesprochen wird. Die Partei muss sich öffnen und zeigen, dass sie dem entstehenden neuen politischen Subjekt Strukturen anbieten kann. Sie muss zulassen, dass soziale Kollektive innerhalb der Izquierda Unida Entscheidungen treffen, ohne die traditionellen Entscheidungswege in der Partei einzuhalten. Sie muss die alltägliche Arbeit in den sozialen Bewegungen machen und zeigen, dass die IU ein nützliches Instrument einer demokratischen Transformation sein kann.

Brauchen die sozialen Bewegungen denn wirklich eine Verbindung zu den Parteien oder den Gewerkschaften?
Ich bin davon überzeugt, dass eine Revolution Organisationsstrukturen braucht, sonst besteht immer die Gefahr des Zerfalls der Bewegung. Dies geschieht gerade auch mit der Bewegung 15M. Das Niveau des Aktivismus nimmt täglich ab, weil es an Organisationsstrukturen mangelt - abgesehen von punktuellen Straßenaktionen. Es gibt ein verbreitetes Missverständnis: Um Entscheidungen zu treffen, sind horizontale Strukturen wichtig. Um diese aber umzusetzen, brauchen wir eine minimale Organisationsstruktur. Außerdem ist es notwendig, mit den existierenden Organisationen zu arbeiten, wenn wir einen Block der Gegenmacht aufbauen wollen.

Der Gewerkschaftsverband Comisiones Obreras (CCOO) hat eineinhalb Millionen Mitglieder. Wir müssen mit ihnen umgehen, auch aus einer Position der Kritik heraus. Wir müssen sie einbeziehen, wenn wir wirklich eine gesellschaftliche Veränderung wollen. Dasselbe gilt für die IU: Sie hat ihre Schwächen und Stärken. Wir müssen ihre Schwächen angehen, sie aber auch in die Prozesse einbinden. Schließlich haben auch die sozialen Bewegungen ihre Schwächen, und diese sind oftmals gar nicht so verschieden von denen der Parteien. In der »Democracia Real Ya« (Wirkliche Demokratie, Jetzt) gibt es inzwischen ähnliche Spaltungen und Machtkämpfe. Jeder Einzelne von uns muss da den Balken im eigenen Auge sehen und nicht nur den Splitter im Auge des anderen. Auch wenn wir noch so viel Zündstoff auf die Straße bringen, die Probleme noch so sichtbar machen und noch so viel selbstorganisierte Strukturen aufbauen: Wenn wir nicht die institutionalisierte Macht erobern und die Demokratie über die Gewerkschaften in die Fabriken bringen, ist das nicht von Dauer. Wenn wir weder die Medien noch das Bildungssystem erobern, werden wir die Mobilisierung kaum so verstärken, dass wirklich etwas verändert werden kann. Und auch wenn wir die sogenannte Revolution auf der Straße erreichen, würden wir am Ende doch niedergetreten.

Was waren deine Hoffnungen, als die 15M-Bewegung entstanden ist?
Am Anfang war die Rolle der 15M, die Glocken zu läuten und ein möglichst breites Spektrum von Leuten mit ganz einfachen, zusammenhanglosen Forderungen anzusprechen und auf die Straße zu holen. Danach wurde am 25. September 2012 der Kongress umzingelt, die Coordinadora 25S wurde aufgebaut. Hier ging es schon darum, eine andere Art der Politik und ein anderes ökonomisches Modell und dementsprechend einen verfassungsgebenden Prozess zu fordern, der wirklich vom Volk ausgeht.

Inzwischen sind wir in einer dritten, der schwierigsten Phase angekommen: genauer auszuarbeiten, wie dieses ökonomische, soziale und politische Modell aussehen soll. Dies ist eine Phase, in der viel diskutiert werden muss und viele auch auf vieles verzichten müssen. Bis hierher haben wir einfache Dinge getan. Wir sind auf die Straße gegangen, haben protestiert, Zwangsräumungen gestoppt. Jetzt kommt die schwierigere Aufgabe, Alternativen zu entwickeln und Strategien, sie zu erreichen. Und ja, wir können es schaffen!

Das Interview ist ein gekürzter Vorabdruck aus der Zeitschrift »LuXemburg« 1-2013. Die Übersetzung aus dem Spanischen stammt von Susanne Schultz.

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