Krank durch Gier und Hass

Tibetische Medizin behandelt mit Kräuterpillen und Änderung des Lebensstils

  • Beate Wagner
  • Lesedauer: 3 Min.
Tibetische Medizin gehört in Indien zum Alltag. Auch in Europa findet sie immer mehr Anhänger, eine Schweizer Firma produziert tibetische Kräuterpillen.

Die engen Gassen in Dharamsala im Norden Indiens sind früh belebt: Mantragesänge schallen vom Kloster Tsuglagkhang des Dalai Lama herüber. Mönche eilen auf dem spirituellen Rundgang um den Tempel. Verkäufer breiten Decken mit Blattgemüse aus. Hupende Kleinwagen, Kühe und Touristen bahnen sich ihren Weg. Das Bergdorf auf 1600 Meter Höhe ist seit 1960 Sitz der tibetischen Exilregierung. Tausende Tibeter flohen wie der Dalai Lama nach der Besetzung durch China hierher. Und brachten so die tibetische Medizin nach Indien. Seit 2009 ist die Heilkunst offiziell anerkannt - insgesamt 54 Kliniken überall im Land bieten die traditionelle Methode an. Die tibetische Medizin ist zum wichtigsten Wirtschaftsfaktor der Exilgemeinde geworden.

Zehntausende Europäer und Amerikaner pilgern jährlich an die Ausläufer des Himalaya-Gebirges. Sie suchen im Buddhismus nach innerem Frieden und in der tibetischen Medizin nach einer Alternative zur westlichen Schulmedizin. Ayurveda aus Indien und die traditionelle Medizin aus China (TCM) sind bereits feste Säulen der westlichen Komplementärmedizin. Die tibetischen Kräuterpillen könnten die dritte östliche Heilrichtung werden, die bei uns Fuß fasst. Eine kleine Gruppe in Europa hat sie schon vor Jahren entdeckt: Das Schweizer Arzneimittelunternehmen Padma Ag stellt seit 40 Jahren pflanzliche Heilmittel auf der Grundlage tibetischer Rezepturen her. 2005 besuchte der Dalai Lama die Firma. In Deutschland können Schulmediziner sich seit 20 Jahren seriös in tibetischer Medizin ausbilden lassen.

Die Tibeter verbinden mit ihrer Medizin viel mehr als nur die Aussicht auf eine körperliche Heilung oder einen ökonomischen Zugewinn. Entstanden ist die Erfahrungsmedizin im 7. Jahrhundert nach Christus aus Heilwissen aus China, Indien, Griechenland, Persien und aus dem tibetischen Schamanismus. Der Lehre zufolge wirken in jedem Körper die drei Energien Lung, Beken, Tripa. Geraten sie in ein Ungleichgewicht, reagiert der Organismus mit Krankheiten. »Die Lehre des Buddha spiegelt sich in der Betrachtung der Patienten wieder«, erklärt der Mönch Tenzin Thaye aus Dharamsala. »Für die Gesundheit des Menschen ist entscheidend, in welcher Lebenswelt er sich befindet.« Übersetzt heißt das: Krankheiten entstehen, wenn das Leben durch die Geistesgifte Gier, Hass und Verblendung beherrscht wird. Glücklich und gesund ist, wer diese Ursachen des Leids durch Achtsamkeit, Meditation und einen gesunden Lebensstil vermeidet. Typische Diagnosemethoden sind die Puls- und Urindiagnose. Behandelt wird mit Kräuterpillen und Lebensstiländerung.

Einige tibetische Mediziner in Dharamsala kennen auch die Schulmedizin. Wichtige Methoden, mit denen auch in der Schweiz die Qualität der tibetischen Rezepturen gesichert wird, sind auch Standard an dem berühmten wissenschaftlichen Men-Tsee-Khang (MTK). Hier behandeln etwa 680 Ärzte, Astrologen und Wissenschaftler jährlich rund 56 000 Patienten, mixen 500 Rohstoffe zu 150 traditionellen Rezepturen zusammen und verschicken mehr als 30 Tonnen tibetischer Präparate in alle Welt.

Früher wurden die Naturmaterialien in Handarbeit verarbeitet. Seit 1969 setzen die Tibeter auch Maschinen ein. Dennoch gleicht die Produktion der Arzneimittel am MTK bis heute eher einem Provisorium. Will das Institut auch zukünftig in Indien das Monopol auf die Herstellung der traditionellen tibetischen Arzneien behalten, muss es mehr westliche Standards in Herstellung und Produktion integrieren und Forschung zulassen.

Bisher gibt es einige wenige klinische und experimentelle Studien - die meisten allerdings werden im Westen durchgeführt. »Die Tibeter sind sich bewusst, dass ihnen große Änderungen bevorstehen«, sagt Herbert Schwabl, Geschäftsführer der Padma AG. Denn soll die Heilkunst über die Grenzen Exil-Tibets Bestand haben, wird sie zwangsläufig weniger spirituell, dafür aber wissenschaftlicher werden.

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