Operation am Herzen

Als Bayern Pirlo an die Leine nahm, war Turin bezwungen: Juves Trainer erklärt München zum Titelfavoriten

Ohrenbetäubende Pfiffe begleiteten Andrea Pirlo. Vier Minuten lief das Viertelfinalhinspiel der Champions League zwischen dem FC Bayern und Juventus Turin, als der Spielmacher den ersten Eckball ausführen wollte. Eine gewisse Antipathie des Großteils der 68 000 Zuschauer in der Münchner Arena gegen den 33-jährigen Juve-Star ist nachvollziehbar. Immerhin beendete Pirlo mit einem Zauberpass im WM-Halbfinale 2006 das Sommermärchen der Deutschen abrupt. Und auch im vorigen Sommer war er eine der Hauptfiguren, als die DFB-Elf im Halbfinale der EM erneut an Italien scheiterte.

Doch ob genau jener Auftritte waren die Pfiffe mehr Ausdruck von großem Respekt und ein wenig Angst als purer Abneigung. »Pirlo ist ein genialer Fußballer, das Herz von Juve, Architekt und Hirn der Mannschaft.« Auch in den Worten des Münchner Trainers Jupp Heynckes schwang mehr als nur ein Hauch Ehrfurcht mit.

Die ersten zwanzig Minuten am Dienstagabend weckten Erinnerungen an das verlorene Halbfinale der EM. Den Münchnern gelang kaum etwas, nichts war von der Spielfreude beim 9:2 über den HSV übrig geblieben. Sicherheit gab nicht einmal die schnelle 1:0-Führung nach nur 25 Sekunden durch einen abgefälschten Distanzschuss von David Alaba. Die Gäste aus Turin waren dominant und torgefährlicher, der FC Bayern nicht wiederzuerkennen.

Das lag ein wenig an Pirlo, doch vielmehr an den Münchnern selbst. Toni Kroos verfolgte den Italiener genau wie damals in Warschau auf Schritt und Tritt und vergaß darüber seine spielgestaltenden Aufgaben. Ein Rädchen der in dieser Saison bisher tadellos laufenden Bayern-Maschine griff nicht - und brachte das gesamte System zum Erliegen.

Weit nach Spielende resümierte Thomas Müller: »Wir haben in beide Richtungen sehr intensiv gespielt.« Nicht nur mit seinem Tor zum 2:0 nach 63 Minuten trug er zu einem letztlich versöhnlichen Abend bei. Als Kroos schon nach 16 Minuten mit einem Muskelbündelriss ausgewechselt werden musste, übernahm Müller dessen Position im Mittelfeld - und die Bewachung von Pirlo. Anders als Heynckes’ Musterschüler Kroos interpretierte Müller die Rolle freier. Er löste sich wenn nötig von Pirlo und schaltete sich in jeden Angriff ein. Plötzlich waren sie wieder da, die gierigen Bayern. Sie blieben es bis zum Abpfiff und hätten noch höher gewinnen können. Bei einer »Supermacht« sei er zu Gast gewesen, befand Juve-Trainer Antonio Conte. Bayern sei »Titelfavorit« in der Königsklasse.

Mit einer beeindruckenden Saison haben sich die Münchner derlei Lobeshymnen verdient. Rechtfertigen werden sie diese nur können, wenn sie weiter ihren eigenen Stärken vertrauen. Vielleicht haben die frühe Verletzung von Kroos und der unorthodoxe Müller ihren Trainer vor einer Ernüchterung bewahrt, wie sie Bundestrainer Joachim Löw gegen Pirlos Italien erlebte.

Andrea Pirlo wollte nach dem Spiel nichts sagen. Seine elegante Lässigkeit, die ihm auf dem Platz, hilflos mit den Armen rudernd, abhanden gekommen war, hatte er wiedergefunden. In Anzug und Turnschuhen verließ er die Arena, draußen warteten kreischend die Verehrer. Am kommenden Mittwoch beim Rückspiel in Turin werden es über 40 000 sein. Sie werden ihn frenetisch anfeuern - das Herz von Juventus wird wieder schlagen.

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