Überleben in der Parallelwelt

Die Gulag-Erfahrungen von Lew Mischtschenko und Erwin Jöris

  • Wladislaw Hedeler
  • Lesedauer: 5 Min.

Die in Verse gekleidete Bitte von Anna Achmatowa, ihr einen Gruß, eine Nachricht aus dem Gulag durch die Sterne zukommen zu lassen, bringt die Situation der politischen Häftlinge in Stalins Gulag auf den Punkt. Die Erlaubnis oder Verweigerung des »Rechts auf Korrespondenz« war ein beliebtes Mittel der Lageradministration, die inhaftierten Männer und Frauen unter Kontrolle zu halten, gefügig zu machen. Bei jedem Verstoß gegen die »Haftordnung« konnte das Recht entzogen werden. Das musste der ehemalige Rotarmist Lew Mischtschenko erfahren. In den Sonderlagern mit verschärftem Haftregime gab es dieses Recht nicht einmal, hier war die Isolation total. Der Berliner Kommunist Erwin Jöris durfte nicht korrespondieren, sollte in Workuta für immer verstummen. Erst über ein halbes Jahr nach Stalins Tod, im Dezember 1953, konnte er eine Postkarte nach Deutschland schreiben.

In beiden Fällen ist die Rechnung der Täter nicht aufgegangen. Lew Mischtschenko und Erwin Jöris widerstanden. Eine Hommage auf sie haben der britischer Geschichtsprofessor Orlando Figes und der deutsche Historiker Andreas Petersen verfasst. Die Lebenswege und Schicksale des deutschen Kommunisten und des russischen Offiziers weisen mehr Gemeinsamkeiten auf als nur den Weg über Wologda und Kotlas nach Petschora. Ihre Berichte über die monatelange Fahrt im Viehwagen, die grausame Behandlung durch die Wachmannschaften und Kriminelle unterscheiden sich kaum. Doch die eigentliche Tortur begann erst nach der Ankunft in den Lagern Sibiriens.

Im nördlichen Petschoralager stieg die Zahl der Häftlinge von Januar 1946 bis Januar 1948 von 35 000 auf 56 000. Einer der Häftlinge war der junge Physiker Mischtschenko. Sein »Vergehen«: Er war im Oktober 1941 in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten und hatte diese überlebt. Es zählte nicht, dass er auf Anwerbungsversuche der Wlassow-Armee nicht eingegangen war. Während des Todesmarschs der Buchenwaldhäftlinge in den lezten Kriegswochen floh er. US-amerikanische Soldaten fanden ihn. Ihr Angebot, als Atomphysiker in den USA zu arbeiten, schlug Mischtschenko aus. Er wollte zurück in die Heimat, wo die Freundin auf ihn wartete. Auf einem LKW mit der Aufschrift »Glückliche Heimfahrt!« brachten ihn die US-Amerikaner nach Torgau. Doch von dort ging es für ihn nicht weiter in Richtung Moskau. Mischtschenko fand sich in einem sowjetischen Militärgefängnis wieder, wo er im Schnellverfahren zu zehn Jahren Gulag verurteilt wurde. Die Rückreise in die Heimat trat er als Häftling an. Im Juli 1946 traf er im Lager an der Petschora ein. Als Holzschlepper hätte er keine zwei Jahre durchgehalten. Doch er hatte Glück im Unglück: Es wurden Elektroingenieure gebraucht, um die maroden Anlagen in Betrieb zu halten. Er konnte sich frei im Lager bewegen und Briefe an seine spätere Frau aus dem Lager schmuggeln.

Das Lager, in das Jöris 1951 verbracht wurde, existierte seit 1938. Als er dort ankam, schufteten 73 000 Häftlinge in den dortigen Bergwerken. Das Holz für die Abstützung der Stollen, in die nun auch Jöris einfuhr, kam aus dem Petschoragebiet, aus dem Holzkombinat, in dem Mischtschenko arbeitete.

In den Briefen, die bis Juli 1954 zwischen Lew Mischtschenko und seiner Sweta hin- und hergingen, ist von Politik kaum die Rede, bedauert Figes. Es gäbe keine deutliche Distanzierung vom unmenschlichen stalinistischen System, stattdessen gar eine Teilakzeptanz des Urteils. Ganz anders bei Jöris. In seiner Beschreibung der Situation im Lager vor und nach Stalins Tod ist der Deutsche wesentlich deutlicher als sein russischer Leidensgefährte. Für den Antifaschisten unerträglich war es vor allem, in Workuta in einem Lager mit im sogenannten Sachsenhausen-Prozess von 1947 verurteilten Kriegsverbrechern interniert zu sein. »Ich habe manchmal gedacht: Das kann doch nicht wahr sein«, erinnert sich Jöris, der im Oktober vergangenen Jahres 100 wurde. Und er berichtet über einen Nazi-Mitgefangenen: »Der verehrte seinen Hitler immer noch bis dorthinaus ... Der ist ein Massenmörder, und ich saß bei denen im KZ.«

Mit 16 Jahren war Jöris der Kommunistischen Jugend (KJVD) beigetreten und hatte Flugblätter mit der Aufschrift »Hitler - das bedeutet Krieg« verteilt. Bereits im März 1933 von den Nazis verhaftet, saß er im KZ Sonnenburg. Im Folgejahr wurde er nach dem Versprechen, sich nie wieder »im staatsfeindlichen Sinne zu betätigen«, entlassen. Jöris emigrierte in die Sowjetunion, wo er 1937 als »Trotzkist« verhaftet wurde. Ein Jahr später erfolgte seine Auslieferung nach Deutschland. Wieder kam er in Haft und dann an die Ostfront. 1949 wurde er von ehemaligen Genossen, die ihn vom Sowjetexil her kannten, angeschwärzt; ein sowjetisches Militärgericht verurteilte ihn zu 25 Jahren Zwangsarbeit in Sibirien. Als Mischtschenko entlassen wurde, erhielt Jöris das erste Paket aus Deutschland. 1955 konnte er zurück in die Heimat; er wählte nun Köln als seinen Lebensort.

Beide Bücher sind zur Lektüre zu empfehlen, weil sie die Lagerwelt aus der Häftlingsperspektive beschreiben und vor allem eben auch vom Widerstand in der »Parallelwelt Gulag« berichten. Gerade weil solche Darstellungen ein Korrektiv zur »offiziellen«, der Täterperspektive folgenden Lesart über die Stalinschen Lager sind, ist jeder sachliche Fehler in der Kommentierung bedauerlich. Dass Gulag-Häftlinge keine gestreiften Anzüge trugen und ihnen auch keine Nummern auf die Haut gebrannt wurden, ist spätestens seit Solschenizyns Buch »Ein Tag aus dem Leben des Iwan Denissowitsch« bekannt. Die Häftlingsnummern wurden auf Stofffetzen gemalt und auf Mütze, Hose und Jacke genäht, damit die Wachen auf den Lagertürmen eine gute Zielscheibe hatten. Erwin Jöris trug übrigens die Nummer I M 528.

Orlando Figes: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne. Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors. A. d, Eng. und Russ. von Bernd Rullkötter. Hanser Berlin. 376 S., geb., 24,90 €.

Andreas Petersen: Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren. Ein Jahrhundertdiktat: Erwin Jöris. Marixverlag, Wiesbaden. 519 S., geb., mit CD-Rom, 24,90 €.

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