Zum Sonntagsei Zwangsarbeit

Dauerausstellung »Alltag Zwangsarbeit« eröffnet

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Was konnten deutsche Zivilisten über Zwangsarbeit und Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkriegs wissen? Sie konnten alles wissen - sofern sie nicht die Augen vor der Wirklichkeit verschlossen. Im Sommer 1944 betrug der Anteil der Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft rund 50 Prozent, unter den Arbeitern in der Industrie und den Angestellten war jeder vierte zwangsverpflichtet - darunter Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge. Mit 8,4 Millionen Menschen stellten die zivilen Zwangsarbeiter aus den von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten die größte Gruppe. An sie erinnert seit gestern eine Dauerausstellung im Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit Berlin-Schöneweide. Karel Jakeš aus České Budějovice (Tschechien) ist einer dieser 8,4 Millionen Menschen. Als 19-Jähriger wurde der heute 90-Jährige nach Berlin verschleppt, hat Hunger, Durst und 262 Luftangriffe überlebt. Seit einigen Tagen weilt er zur Ausstellungseröffnung zum ersten Mal seit seiner Befreiung im April 1945 wieder in Berlin. Diesmal aus freien Stücken. »Der heutige Tag ist für mich eine Art Wiedergutmachung«, sagte Jakeš gestern.

Die Ausstellung residiert an historischem Ort - während des »Dritten Reichs« befand sich hier ein Zwangsarbeiterlager, das als Anlage so gut erhalten ist wie kaum ein anderes Lager. Die Insassen arbeiteten u.a. in der Batteriefabrik Petrix (Varta). Auch die Gründerzeithäuser gegenüber auf der anderen Straßenseite sind noch gut erhalten. Von hier aus konnten die Bewohner den Lageralltag mitverfolgen. Sie hatten, wie es Andreas Nachama, Direktor der Stiftung Topographie des Terrors, gestern vor Medienvertreter beschrieb, beim Genuss des sonntäglichen Frühstückseis einen exklusiven Blick auf das Lager.

Seit 2006 existiert das Dokumentationszentrum an diesem Ort. In den ehemaligen Baracken - zu DDR-Zeit befand sich hier ein Institut zur Herstellung von Impfstoffen - wurden in den letzten Jahren wechselnde Ausstellungen zur Geschichte der NS-Zwangsarbeit gezeigt. Die jetzt eröffnete Dauerausstellung präsentiert Dokumente und Objekte aus dem Lageralltag sowie 33 Biografien - 17 von ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, 16 von deutschen Helfern, Profiteuren und Zeitzeugen.

Der Titel »Alltag Zwangsarbeit 1938-1945« habe eine doppelte Bedeutung, betont die Leiterin des Projekts, Christine Glauning. Zum einen zeige die Ausstellung den Alltag der Arbeitssklaven, zum anderen dokumentiere sie, wie sehr diese zum Leben der deutschen Bevölkerung gehörten. Beim Rundgang durch die Ausstellung finden sich dafür zahlreiche Belege, darunter Privataufnahmen eines Amateurfilmers: die Kamera filmt eine Frau und einen Jungen (vermutlich Mutter und Sohn) bei Kaffee und Kuchen im Ausflugslokal, im Hintergrund sind die Baracken eines Zwangsarbeitslagers zu sehen, im Vordergrund geht eine junge Frau am Tisch vorbei, die Plakette »Ost« auf der Jacke weist sie als »Ostarbeiterin« aus.

Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit, Britzer Straße 5, 1243 Berlin, Di.-So., 10-18 Uhr, Kuratorenführung, 9. Mai, 15 Uhr, Lesung aus Erinnerungen von ehemaligen Zwangsarbeitern, 17 Uhr. www.dz-ns-zwangsarbeit.de

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