Genf: »Glaubwürdige Hinweise«

Menschenrechtsausschuss erhielt Syrien-Bericht über Giftgas-Einsatz

  • Roland Etzel
  • Lesedauer: 4 Min.
Wieder einmal wurde über einen tatsächlichen oder vermutlichen Einsatz chemischer Kampfstoffe im syrischen Bürgerkrieg debattiert. Diesmal erstattete eine UN-Untersuchungskommission Bericht vor dem Genfer Menschenrechtsausschuss.

Nach dem ersten vor zwei Monaten geäußerten Verdacht, dass die syrische Armee bei ihrem Vorgehen gegen Rebellenverbände Giftgas eingesetzt haben könnte, hatten vor allem die westlichen Staaten Inspektionen gefordert. Syriens Regierung hatte den Vorwurf zwar energisch bestritten, schmälerte allerdings ihre Glaubwürdigkeit in dieser Frage, als sie Inspektionsteams der UNO ablehnte - jedenfalls was deren Bewegungsfreiheit im Lande betraf. Inspektionen »am Gängelband« wiederum lehnten die Inspektoren ab.

Eine Untersuchungskommission wurde von der UNO trotzdem berufen. Ihr Vorsitzender Paulo Pinheiro hat nun gestern in Genf seinen ersten Bericht vorgelegt. In Ermangelung von Vor-Ort-Untersuchungen stützt er sich jedoch lediglich auf Befragungen von Flüchtlingen sowie Messungen und Untersuchungen in der Nachbarstaaten Syriens. In den Flüchtlingslagern bekamen die Inspektoren dabei durchweg schwere Anschuldigungen gegen Syriens Armee zu hören.

»Wir haben Interviews von Opfern, Flüchtlingen und medizinischem Personal«, sagte Pinheiro, am Dienstag laut AFP vor dem UN-Menschenrechtsausschuss in Genf. Die Kommission hat demnach Hinweise auf einen Einsatz von Chemiewaffen im März und April in Chan al-Assal bei Aleppo, in Uteibah bei Damaskus, im Viertel Scheich Maksud in Aleppo und in der Stadt Sarakeb. Allerdings seien weder die Art der Kampfstoffe, der Typ der Waffensysteme noch die Urheber bekannt.

Dennoch bekräftigten die UN-Ermittler, sie hätten »glaubwürdige Hinweise für den Einsatz von Chemiewaffen durch beide Konfliktparteien«. Es gebe »gute Gründe für die Annahme«, dass Chemiewaffen bei mindestens vier Gelegenheiten in begrenzter Menge eingesetzt wurden. Kommissionsmitglied Carla del Ponte aus der Schweiz, auch bekannt als frühere Oberste Richterin am Haager Jugoslawien-Tribunal, legte Wert auf die Feststellung, die Opfer durch Einsätze von Chemiewaffen seien im Vergleich zur Gesamtzahl gering. Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit seien in Syrien an der Tagesordnung, beklagte die Kommission. Beide Konfliktparteien begingen Massaker und Folter. Del Ponte zeigte sich auch beunruhigt vom zunehmenden Einsatz von Kindern bei den Kämpfen.

Del Ponte hatte nach Bekanntwerden der ersten Vorwürfe über einen Einsatz des Giftgases Sarin durch die syrische Armee den Verdacht geäußert, die Rebellen hätten ein erhebliches Interesse daran, die syrische Armee mit der Anwendung international geächteter Waffen in Verbindung zu bringen, um so die »internationale Gemeinschaft« zum von ihnen erstrebten militärischen Eingreifen zu nötigen. Nach wütenden Protesten relativierte sie ihre Äußerung. Aber auch andere Kommissionsmitglieder trauen manchen Protokollen von Rebellenaussagen offenbar nur begrenzten Wahrheitsgehalt zu, nicht zuletzt Kommissionschef Pinheiro selbst. Gestern bei der Präsentation des Berichts unterließ er jegliche Bewertung. Zuvor bei anderer Gelegenheit hatte er jedoch mit seiner Meinung diesbezüglich nicht hinter dem Berg gehalten. Den Anti-Assad-Kämpfern sei offenbar jedes Mittel recht, so Pinheiro, um ihre Ziele zu erreichen.

Die Ursache sieht er darin, dass »ausländische Kämpfer die Rebellen radikalisiert haben«, wie er im Deutschlandradio Berlin sagte. »Die Mehrheit der Aufständischen hat keine demokratischen Gedanken oder Ziele.« Die Brutalität habe neue Höhen erreicht. Das allerdings gelte für alle Seiten in dem Krieg.

Human Rights Watch (HRW) erhob indes schwere Vorwürfe gegen die Regierungstruppen. Die Leichen von 147 Männern, die zwischen Ende Januar und Mitte März aus einem Fluss bei Aleppo gezogen wurden, seien wahrscheinlich in Gebieten unter Kontrolle der Regierung ermordet worden, erklärte die Organisation. Viele Opfer hätten Kopfschüsse aufgewiesen, zudem seien ihnen die Hände gefesselt und der Mund zugeklebt worden, berichtete HRW unter Berufung auf Anwohner und Hinterbliebene.

Derweil gehen die Kämpfe um die strategisch wichtig Stadt Kusseir nahe der libanesischen Grenze weiter. Laut der oppositionellen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte seien in dem Dorf Kfar Hamra bei Aleppo am Dienstag 26 Menschen, darunter sechs Frauen und acht Kinder, getötet worden, nachdem dort Raketen eingeschlagen waren. Die USA entsenden, so erklärte ein Sprecher ihrer Militärführung am Montag, F-16-Kampfjets und ein Patriot-Raketenabwehrsystem zu einem Militärmanöver in Syriens Nachbarstaat Jordanien.

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