Wider die Mär vom NS-Konsens

Eine Geschichte Berlins unter dem Hakenkreuz

  • Lesedauer: 3 Min.

So häufig Berlin in Büchern, verschiedensten Abhandlungen und Zeitungsaufsätzen erwähnt wird, wenn es um die Geschichte der faschistischen Herrschaft in Deutschland geht, so gibt es doch bis heutigen Tages keine bündige Geschichte der Reichshauptstadt in den zwölf Jahren, als in allen Straßen und an allen Plätzen Hakenkreuzfahnen wehten. Der hier anzuzeigende Band kann diese Lücke nicht schließen, doch auf dem Wege zu einer solchen Darstellung ist er ein wichtiger Schritt.

Die thematische Spannbreite der Aufsätze reicht von der Entstehungsgeschichte der Nazipartei in der Weimarer Republik bis zum Leben der Berliner im Krieg, insbesondere unter dem Bombardement der Alliierten. Sie sind gegliedert in sieben Kapitel: Machtübernahme, Herrschaft und Verwaltung, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Terror und Verfolgung, Krieg.

Faktenreich und sachlich wird herausgearbeitet, wie das Geschehen in der »Reichshauptstadt« dem in anderen deutschen Großstädten glich und was es von diesen unterschied. Populäre Klischees wie die vom »roten Berlin« oder vom Berlin des Jahres 1945 als einem einzigen Trümmerhaufen werden von den Autoren auf den Prüfstand gestellt. Verzichtet wird durchweg auf Abschweifungen und Ausschmückungen. Wer sich auf den Band einlässt, muss nicht fürchten, auf jene erbauende Unterhaltung zu treffen, die sich in vielen Stadtgeschichten finden lassen und zu denen Fernsehdokumentationen und sogar Spielfilme mehr und mehr verkommen sind.

Zu dem, was durch weitere Forschungen aufzuklären bleibt, gehört vor allem der Alltag des arbeitenden Berlin vor und im Krieg. Das betrifft u.a. die Wohnverhältnisse. Gegeben wird eine Vorstellung der Folgen der drastischen Einschränkung des Wohnungsbaus zugunsten von Rüstungs- und politischen Prunkbauten. Ebenso von den materiellen Lebensverhältnissen der arbeitenden Bevölkerung sowie von den Gestaltungsmöglichkeiten der mit der Verlängerung des Arbeitstages immer knapper werdenden Freizeit.

So lückenhaft hier noch die Bilder vom Alltag in den Arbeitsstätten und den Wohnbezirken sind, es werden in diesem Buch schlagende Argumente gegen die Legende von der faschistischen Herrschaft als einer »Wohlfühl-« oder »Konsensdiktatur« geboten. Von der Kaufkraft der arbeitenden Bevölkerung heißt es, dass sie »erst um 1938 annähernd wieder das Niveau von 1928 erreichte« und das trotz längerer Arbeitszeiten. An anderer Stelle wird festgestellt: »Die Bruttowochenverdienste erreichten 1938 noch immer nicht den Vorkrisenstand.«

Zu den Anregungen, die aus dem Band zu beziehen sind, gehört auch die knappe Erwähnung der Berliner Kriegsgewinnler, von den großen bis zu kleinen Unternehmen, die vor allem satte Profite und Gewinne teils mit Kriegsaufträgen der Wehrmacht und von anderen staatlichen Auftraggeber erzielten wie auch aus der Übernahme von Betrieben in besetzten Ländern oder der dortigen Errichtung eigener Filialen.

Michael Wildt / Christoph Kreutzmüller (Hg.), Berlin 1933-1945, Siedler Verlag, München 2013. 495 S., geb., 24,99 €.

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