Iatrophobie: Der Arztbesuch entfällt aus Angst

Krankhafte Furcht vor Medizinern zu wenig beachtet

  • Gisela Sonnenburg
  • Lesedauer: 4 Min.
Mancher Kranke fürchtet diejenigen, die ihm helfen könnten: Iatrophobie nennt sich die panische Angst vor Krankenhäusern, Arztpraxen und Hausbesuchen. Mitunter stehen schlechte Erfahrungen dahinter, in anderen Fällen überträgt sich die Angst vor Krankheit auf die gesamte Medizinwelt.
Die Angst vorm Zahnarzt ist klassisch. Sigmund Freud, Begründer der Psychoanalyse, erklärte sie mit seiner Traumdeutung: Darin entspricht die Angst vorm Zahnverlust einer versteckten Kastrationsangst. So tief schürfen heutige Psychologen selten - dafür bieten sie gegen die Iatrophobie, die krankhaft gesteigerte Angst vorm Arzt, spezielle Therapien an. In hartnäckigen Fällen ist eine solche angebracht, auch wenn sie Dutzende von Sitzungen dauert. Sofern der Patient den Weg zum Therapeuten überhaupt findet - und nicht aus Panik vorm Termin auf halber Strecke kehrt macht. Ratsam ist deshalb, den Arztbesuch von vornherein auf einen möglichst stressfreien Tag zu legen - und sich für das »Hinterher« eine Belohnung auszudenken. Denn allein schon das Eingeständnis von Gefühlen wie Angst, Beklommenheit, Unbehagen kann helfen, da sind sich die Experten einig: Es ist der wichtige erste Schritt, dem Übel auf die Spur zu kommen. Allerdings muss man differenzieren. Nicht jeder, der Ärzte und Krankenhäuser eher meidet, ist psychisch krank. Wer mehrfach Opfer ärztlicher Fahrlässigkeit, schlechter Diagnostik oder wirkungsloser Behandlungen war, ist halt vorsichtig - und wird wohl nur durch positive Erfahrungen mit Ärzten wieder zu Vertrauen kommen. Diese Chance sollte er sich nicht nehmen. Umgekehrt aber lässt sich nicht jedes Kindheitstrauma, meist eingebettet in ein Netz aus Zwangserscheinungen und Phobien, lösen, wenn man die Iatrophobie isoliert betrachtet. Dennoch: Rund zwei Millionen Deutsche sollen zumindest zeitweise an Iatrophobie leiden. Gefährlich, denn manifeste Erkrankungen können ohne Arztbesuch weder erkannt noch behandelt werden. Professor Iver Hand, Leiter des Bereichs Verhaltenstherapie der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf, ortet bei seinen Patienten ein regelrecht antrainiertes »Vermeidungsverhalten«. Er glaubt nicht, dass es diffuse Angst vor Weißkitteln ist, die es zu kurieren gilt, sondern sieht das Problem in individuell verschiedenen, aber konkreten Aspekten begründet. Da fürchtet der eine vor allem die Injektion, die andere den gynäkologischen Stuhl. Mancher wird nervös, wenn er den Bohrer hört, bei anderen löst der Geruch von Desinfektionsmitteln Schweißausbrüche aus. Diese ursprünglich auf ein spezifisches Detail bezogene Angst wird von Iatrophobikern auf den gesamten medizinischen Apparat übertragen. So wird aus einer Mücke ein Elefant - und der Patient am Ende schon deshalb krank, weil er die Vorsorge vernachlässigt. Ein Teufelskreis ist auch die Angst vor Krankheit. So hegt, wer Krebserkrankungen in der Familie hat, oft besondere Ängste vor gerade dieser Diagnose, lässt sich aber - ebenfalls aus Angst - nicht untersuchen. Sowohl die Angst als auch das reale Risiko zu erkranken steigen dann. Wer sich dann noch aus Furcht, nicht wieder aufzuwachen, einer notwendigen Operation entzieht, spielt mit seiner Gesundheit Russisches Roulette. Und auch, wenn der Zahnarzt bei vielen böse Erinnerungen weckt, sollte das nicht zu einer Verwahrlosung des Gebisses führen. Für Zahnarzt-Ängstliche gibt es jetzt eine Möglichkeit, die den Gang ins Behandlungszimmer erleichtert: gezielte Ablenkung. Die Hamburger Firma Olympus Optical entwickelte mit dem Konzern Philips eine Drei-D-Brille, die Filme abspielt: »Patientenkino« sozusagen. Mit der Kombination aus Multimedia-Brille, Kopfhörern und einem DVD-Player kann man sich ganz auf Hollywood konzentrieren, während der Bohrer brummt. Das ist zwar gegen das Freudsche Aufklärungsprinzip, doch laut dem Neunkirchen-Seelscheider Zahnarzt Dr. Wolfgang Matscheck wirksam: »Weil der Patient nicht mehr ständig auf den Schmerz wartet, hat er nicht nur weniger Angst während der Behandlung, sondern auch ein niedrigeres Schmerzempfinden.« Vor allem bei Langzeitsitzungen wie Mehrfachbohrungen, Kronen- oder Inlay-Anpassung scheint das multimediale »Zahnarztsystem« die perfekte Ergänzung zur Betäubungsspritze: Die Patienten seien hernach »frischer und entspannter«, stellte Matscheck fest. Auch für ihn, den Zahnarzt, ist es angenehmer, einen lässig Film guckenden Patienten zu behandeln als einen furchtsam verkrampften Hypochonder. Ähnlichen Service bietet übrigens manche MRT-Praxis: Bevor ein Patient für zwanzig Minuten in die Röhre des Tomographen geschoben wird, wird ihm Radiogenuss über Kopfhörer angeboten. Pathologische Ängste lassen sich mit so sanften Verdrängungsmethoden allerdings kaum bekämpfen. Wer seinen Kindern ein iatrophobisches Schicksal ersparen möchte, der lehre sie rechtzeitig, sich auf eventuellen Schmerz beim Arztbesuch einzurichten und ihn zu akzeptieren. Auch Bücher (»Karius und Baktus«) können negative Schlüsselerlebnisse verhindern. Nach überstandener Prozedur ist bei kleinen Leuten ausgiebiges Lob angesagt - und man darf ruhig zugeben, dass die Visite beim Zahnklempner auch von Erwachsenen meist eines erfordert: eine klitzekleine Prise Mut. Weshalb ja, laut Sigmund Freud, gerade jene Zeitgenossen Zahnarzt werden, die unbewusst die größten Angsthasen sind.
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