Faustan?

Weimar: Neustart mit Goethes »Faust. Der Tragödie erster Teil«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Weimar, Theatervorplatz. Das berühmte Denkmal. Blickte Schiller zur Seite, sähe er aufs Goethe-Kaufhaus. Schaute Goethe zur Seite, erzipfelte sein Blick eine Ahnung vom nahen Schiller-Kaufhaus. Gut, dass dies Denkmal aus Bronze ist: Die Klassiker können zum Glück ihre Köpfe nicht bewegen.

Drinnen »Faust. Der Tragödie erster Teil«. Regieintendant Hasko Weber gibt seinen Einstand (Bühne: Oliver Helf). Theaterkritik neigt zur Offenbarung dessen, was sie denkt. Webers Abend zwingt Kritik zur Beschreibung dessen, was sie sieht. Und da siegt dies Theater auch dort, wo es emotional flaut.

Also: Die Inszenierung macht vor allem eines - Betrieb. So erfährt man zwar immer weniger über Faust, aber immer mehr darüber, wie man den Leuten - theatertechnisch - was Tolles vormacht. Bereits das »Vorspiel«: eine Lustige Person, die ihr Körperkönnen mit einer Kotz, kotz, kotz!-Pantomime präsentiert (Luises Giftselbstmord in »Kabale und Liebe«: kein Goethe ohne Schiller); ein Dichter (Krunoslav Sebrek), der seinen Rrrollentext rrampennah herrrausrrröhrt - um aus hohler Altvorderenpose ins perfekte turnerische Spagat zu fallen.

»Vor allem aber: Lasst genug geschehen!« - Weber schickt eine »Abonnentin« (Roswitha Marks) aus dem Publikum auf die Bühne: das Mitspracherecht der Zuschauer, also der Mehrheit, hat ein bravbäckiges, spießig-beflissenes Gesicht. (Nicht nur im Theater.). Und die züngelzünftige Frau Mar-the der Birgit Unterweger - eine Clownsakrobatin erster Güte - wird vom Teufel später derart geritten, dass sie ihre Beinschere gar nicht mehr zukriegt. Acht Schauspieler, fünf in wechselnden Rollen (neben den erwähnten: Elke Wieditz, Fridolin Sandmeyer), geben Goethe als Gaukel. Wider alle Bildungsgutsbesitzer jenes Weimarer Hofes, den kein Zeitenwechsel je abzuschaffen vermochte.

Faust. Eine Erinnerungsgalerie. Kurt Böwe, einst in Halle: unser Genosse im Mittelalter. Fred Düren am DT Berlin: nur noch der zitternd bleiche Schatten einer Utopie des Fortschritts. Jahrzehnte später am gleichen Haus: Ingo Hülsmann als kantiger Herzbrocken, der sich kalt über Seelen wälzt. Sepp Bierbichler in Hamburg: ein Erforscher des Schweigens. Und Bruno Ganz bei Peter Stein? Dieser Faust weilte in seiner Biografie, er lebte sie nicht.

So viele Inszenierungen, zunehmend eine einzige Botschaft: Mit dem 20. Jahrhundert ging etwas zu Ende. Faust ist nicht länger Heros einer gut beleumdeten Vernunft. Aufklärung? Ließ den Geschichtslauf nicht klarer werden. Wissen? Machte die Welt nicht weiser. Neugier? Zeugte Reichtümer, daran sich die uralte Gier mästet. Goethe einen Klassiker zu nennen - vielleicht fordert es vor allem, sein bitteres Urteil über uns Gegenwärtige zu ertragen.

Der Raum hier ist ein heller Bretterboden. Hinter Blechwandplatten. Nichts wirklich, nichts wirtlich. Hexenküche und Walpurgisnacht: Videos, das übliche Exzessbilderstakkato. Überhaupt geht alles schnell, Augenzwinkern führt Regie: Faust sieht Gretchen - »schaff mir die Dirne!« ruft er, Mephisto blickt ins Publikum: »Welche?« Und fragte Faust: »Bin ich Gott?«, so könnte Mephisto rufen: Nee, ich! Er singt den Karel: »Einmal um die ganze Welt, und die Taschen voller Geld«. Des Teufels Reiseplan im Stenogramm; in der Kürze liegt die Klassik.

Lutz Salzmann spielt den Faust mit geradezu masochistischer Durchhaltekraft als einen - Lappen. Hustet, haspelt sein »Habe nun ach«-Leiden, lacht sich ins Fäustchen ob seiner verkaterten faustischen Anwandlungen, die ihm Goethe verschrieb. Und er greift ständig nach Tabletten, als hieße das Stück »Faustan«. In »Auerbachs Keller« sitzt er mit Bolero und Banane wie der bleichhaftige Ossi, der das Betreten seines städtischen Stadions schon für eine gelungene Republikflucht hielt, nur weil er Plätze in der Westkurve hatte. Er bleibt eine sorgenfaltige Spindeldürranei, die Haare meistens zum Zopf - da trifft der ausgelederte Achtundsechziger West den Protestanten-Zartling Ost. Wenn solche Wesen »Abenteuer« sagen, kündigen sie an, sie könnten beinahe fehlerlos mit einem Fahrkarten-Automaten kommunizieren. Salzmann wirft sich mit sympathischster Vehemenz ins Farblose. Aber unter solchen Umständen kann selbst der Teufel nur sich selbst präsentieren. Sebastian Kowski, eine Art deutsche Antwort auf den Wiener Spitzenspieler Peter Simonischek (aber härter, klangvoller, sportiver), brilliert in schwarzem Anzug oder in Fellmantel unterm Cowboyhut, pink die Stiefel, ein souverän-gelangweilter Partymeister. Er hatte Faust nach präzisem Modell der Hausarzt-Routine Blut abgezapft, das hoch aus der Kanüle spritzt - das gefüllte Reagenzgläschen packt er zu anderen, gleichartigen Blutproben. Wir ahnten es: Dieser Faust hat ein Format, das es dem Teufel erlaubt, an mehreren Projekten gleichzeitig zu werkeln.

Einzig ein Kissen, in die Bühnenmitte geworfen: Schon ist sie erbaut, die kleinste Welt für die größte Tragödie - das Bett in Gretchens Zimmer. Eine Metallplattform bildete Fausts Studierzimmer, nun steht da ein klassizistisches Theaterportal. Und ein großes bühnenhohes Wandgemälde hinten zeigt schöne Knie. Dann wechselt das Bild: Jetzt prangt der Schoß. Dann die Brüste. Schließlich das Bild ganz: Hans Baldung Griens »Der Tod und das Mädchen«. Der Tod ein feuerroter Skelett-Teufel, die Nacktheit, die er im Griff hat, blickt weidweh ins Publikum. Das erschüttert für nachhaltige Sekunden mehr als der hastige Story-Durchlauf auf der Bühne. Wäre da nicht Nora Quests Blondgretchen. Erschütternd, wie sie gehetzt-flehend, beim Gebet (!), fortwährend von einem Stuhl springt, um abzutreiben. Zart wie standfest geht sie ihren Leidensweg. Als büße sie freiwillig eine gerechte Strafe: Denn kein weiterer Schicksalsschlag kann schmerzhafter sein als die Tatsache, sich selber mit Blindheit geschlagen zu haben, als dieser Fadkerl Faust auftauchte. Her zu mir!, bellt Mephisto, und Faust steht starr; Erkenntnis haute sein Gesicht wie in grauen blassen Stein: Er ist ein armer, armer Hund.

Essayist Friedrich Dieckmann sieht bei »Faust« die »Gewalt des Schmerzes, die Wucht der Anklage, den Aufschrei der Verzweiflung« - in Momenten nämlich, da Realität eines falschen Lebens und Träume vom richtigen Leben ineinander stürzen. Webers Inszenierung baut kaum Brücken zu Gewalt, Wucht, Aufschrei. Oder baut Brücken, die beim Vormarsch brechen. Weil sie so heiter, ironisch aufspielt, aufstampft.

Aber welch ein Gewinn, mit einer nicht beantwortbaren Frage hinauszugehen: Wieder Theater, das eine wertlose Wirklichkeit offenbart, mehr nicht - Makel oder Leistung? Beides. Und beides betrachtenswert.

Nächste Vorstellungen: 13., 15. 9.

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