Gestrandet in Tartus

Hunderttausende suchen Zuflucht in der syrischen Hafenstadt

  • Martin Lejeune, Tartus
  • Lesedauer: 3 Min.

Wo bis vor zwei Jahren Schüler noch Rechnen, Lesen und Schreiben lernten, hausen nun Flüchtlingsfamilien - in einer Grundschule im Zentrum von Tartus. Auf Matten und Decken schlafen die Flüchtlinge zwischen Schiefertafeln und Sitzbänken. Die 64 Familien sind aus allen Landesteilen hierher geflohen. Laila, ein siebenjähriges Mädchen aus Aleppo, starrt mit leerem Blick aus dem Fenster. Die Halbwaise kam mit ihrer Mutter nach Tartus, nachdem der Vater bei Kämpfen getötet und ihr Haus zerstört worden war. »Ich vermisse Aleppo, aber ich vermisse noch mehr meinen Vater«, erzählt sie.

Tartus ist Standort des russischen Militärs und wird von Regierungstruppen stark geschützt. Das macht die Hafenstadt zum sicheren Fluchtpunkt für Vertriebene aus umkämpften Gebieten. Laut Nizar Moussa, Gouverneur von Tartus, gibt es in seinem Verwaltungsgebiet derzeit 650 000 Vertriebene. Seit Ausbruch der Kämpfe sei die Zahl der Einwohner des Gebiets von 900 000 auf 1,55 Millionen gestiegen. Riyad Khateeb, Aktivist bei Al-Aadyeat, einer lokalen Nichtregierungsorganisation, sagt, es seien sogar 1,1 Millionen Vertriebene, die in Tartus Zuflucht gefunden hätten. Demnach hätte sich die Einwohnerzahl innerhalb von zwei Jahren mehr als verdoppelt.

Syrien bewältigt nicht das erste Mal eine Flüchtlingswelle. 2003, während des Irakkrieges, hatte das Land drei Millionen Iraker aufgenommen. 2006, während des Libanonkrieges, boten die Syrer 1,5 Millionen libanesischen Flüchtlingen Unterschlupf. Doch die gegenwärtige Krise stellt das Land vor nie dagewesene Herausforderungen. Gouverneur Moussa ist stolz darauf, dass keiner der in Tartus gestrandeten Flüchtlinge in großen Lagern leben müsse. »Wir bringen die Vertriebenen bei Familien, in öffentlichen Gebäuden, in Hotels und sogar in den Ferienwohnungen der Minister der syrischen Regierung unter«, behauptet er.

Nizar Mahmoud, Koordinator des staatlichen Flüchtlingshilfswerks von Tartus, hat die Aufgabe, die öffentlichen Hilfsgüter gerecht unter den Flüchtlingen aufzuteilen. Ein Management des Mangels. Vorwürfe zivilgesellschaftlicher Organisationen, der Staat tue nicht genug für die Vertriebenen, kontert er entschieden: »Wir werden zu unrecht kritisiert. Wir tun wirklich alles in unserer Macht stehende, um die vielen Flüchtlinge mit Essen, medizinischer Hilfe und Schulunterricht zu versorgen.«

Doch es gibt auch die Profiteure des Elends, und natürlich möchte niemand im Regierungsapparat offen darüber sprechen. Immobilienwerte, Mieten und Hotelzimmerraten sind in Tartus deutlich gestiegen. Es gibt in diesen Zeiten viele geschäftstüchtige Vermieter, die auch noch ihre kleinste Dachgeschosswohnung für viel Geld an die Flüchtlinge vergeben, eben weil der Staat nicht wie behauptet die Kapazitäten hat, allen Vertriebenen Unterschlupf zu bieten. Und es gibt Hoteliers, die für ein Doppelzimmer von einer sechsköpfigen Familie Wucherraten verlangen. »Leider schreitet der Staat gegen diese Sittenwidrigkeit nicht ein und legt auch keine Preisgrenzen fest«, kritisiert ein aus Homs geflohener Familienvater, der mit seiner Frau und vier Kindern das Doppelte seiner Miete in Homs für eine kleinere Wohnung in Tartus zahlen muss.

Vom Flüchtlingselend profitieren ferner manche Großgrundbesitzer und Fabrikanten, die nun aus einer großen Reserve billiger und jederzeit verfügbarer Arbeitskräfte schöpfen können. Und schließlich die Freier, die sich die Dienste einer verzweifelten Vertriebenen schon für den Gegenwert einer einfachen Mahlzeit erkaufen.

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