Krisenstaaten, seid ungehorsam!

Der britische Ökonom John Grahl über Austeritätspolitik und Angela Merkels Dominanz

  • Lesedauer: 4 Min.
Am Wochenende fand in London die Jahrestagung der Euromemo-Gruppe statt, die Alternativen zur neoliberalen Dominanz im EU-Projekt propagiert. Zu den führenden Köpfen des losen Zusammenschlusses linker Ökonomen aus ganz Europa gehört John Grahl. Der Professor für Europäische Integration an der Londoner Middlesex University (geb. 1946) hat mehrere Bücher zu Maastricht und der EU-Währungsunion veröffentlicht. Mit dem Ökonomen sprach Stephan Lindner.

nd: Ein deutscher Politiker verglich die Euro-Krise kürzlich mit einem Fußballspiel: Nach einer stark umkämpften ersten Halbzeit lägen wir knapp in Führung. Wenn wir in der zweiten Halbzeit genauso entschlossen weiterspielten, hätten wir gute Chancen, die Führung zu verteidigen und die Krise zu besiegen. Sehen Sie das auch so?
Grahl: Im englischen Fußball sagen wir, ein Spiel besteht aus zwei Hälften und die zweite Hälfte ist sehr selten eine Wiederholung der ersten, sondern wie ein völlig neues Spiel. Ich hoffe, das ist auch hier der Fall. Wer glaubt, mit den Maßnahmen einfach so weitermachen zu können, die seit Ausbruch der Krise ergriffen wurden, träumt. Ich glaube nicht, dass das möglich ist.

Normalerweise gibt es in einem Fußballspiel ja Gewinner und Verlierer. Wenn die aktuelle Politik fortgesetzt würde, gäbe es dann auch Gewinner und Verlierer oder würden alle verlieren?
Wenn die Austeritätspolitik so fortgesetzt würde, wären wahrscheinlich alle Verlierer. Vor allem würden die europäischen Konzerne verlieren, für die die EU von unschätzbarem Wert ist und die sich einer politischen Führung gegenüber sehen, welche die Zukunft dieser Union gefährdet. Möglicherweise ist das sogar eher die Kraft als die Linke, die demnächst beginnen wird, die aktuelle Situation zu verändern.

Wenn dieses Interview erscheint, wird Angela Merkel wahrscheinlich wieder eine Wahl gewonnen haben. Was bedeutet das für Europa?
Aus europäischer Perspektive war die deutsche Politik in letzter Zeit ständig kontraproduktiv. Die Deutschen haben gleichzeitig die ganze Zeit gehofft, dass mehr föderale Lösungen in Betracht gezogen werden. Es wäre jetzt notwendig, dass die Deutschen konkretisieren, welche Schritte in Richtung eines mehr integrierten, eines föderalen Europas sie bereit wären zu akzeptieren. Wenn sie sich solche Schritte nicht vorstellen könnten, wäre die ganze europäische Struktur, der sie angehören und von der sie enorm profitieren, in Gefahr.

Wie erklären Sie sich, dass Deutschland einerseits von der EU enorm profitiert, die Zukunft dieser EU aber gleichzeitig so stark gefährdet?
In Deutschland gibt es einen sehr großen Widerspruch zwischen den Interessen der dominierenden Konzerne und der politischen Situation. Bisher wurde die Politik durch eine Art Populismus definiert, der Versprechen gemacht und Annahmen zu Grunde gelegt hat, die falsch sind. Leider hat sich ein großer Teil der deutschen Bevölkerung davon überzeugen lassen, dass dies im deutschen Interesse sei, was aber nicht stimmt.

Ist Angela Merkel die deutsche Margret Thatcher?
Ich denke, Gerhard Schröder war der deutsche Thatcher. Er tat Dinge, von denen Thatcher nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Merkel hat aber Schwierigkeiten, einerseits im deutschen Kontext Politik zu machen und andererseits in der EU Führung zu zeigen. Sie hat ihre europäische Verantwortung kurzfristigen innenpolitischen Kalkülen geopfert, die nur vermeintlich im deutschen Interesse sind. Beispielsweise ist es völlig klar, dass Länder wie Griechenland oder Portugal niemals ihre Schulden werden zurückzahlen können, die sie bei deutschen Institutionen oder Banken haben. Es wäre weise, den Deutschen das zu sagen, statt immer wieder vorzugeben, dass es eine Strategie gäbe, mit der das Geld eines Tages doch noch wiederzuholen wäre.

Hängt die weitere Entwicklung in der Eurozone vor allem von den Kernstaaten, allen voran Deutsch- land, ab, oder haben die Krisenstaaten auch einen Entscheidungsspielraum?
Als einst enthusiastischer Europäer beginne ich zu glauben, dass es für die südeuropäischen Staaten, die heute wie Griechenland in einer kolonialen Situation sind, legitim und richtig ist, diese Struktur herauszufordern. Man muss aufhören, diese Regeln zu akzeptieren, muss ungehorsam sein. Nur unter einer solchen Drohung, die den Fortbestand der EU gefährdet, kann man die politischen Führer zwingen, die Entscheidungen zu treffen, die zur Rettung der EU notwendig sind.

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