Wenn Garten Schule macht

Die Mädchen und Jungen der Berliner Reinhardswald-Grundschule haben ein Paradies erschaffen

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Reifere Jahrgänge dürften den Kopf schütteln. Das Fach Schulgarten, einst weit verbreitet, in der DDR bis zur vierten Klasse Pflicht, ist auf Stundenplänen kaum noch zu finden, und die »grünen Klassenzimmer« werden bundesweit seltener. Ein Verlust?

An der Berliner Reinhardswald-Grundschule gibt es noch einen Schulgarten. Allerdings keinen herkömmlichen, und das Fach wird auch nicht unterrichtet. »Garten ist nicht genug«, ließ der Dichter Hans Christian Andersen einen Schmetterling sagen, »Sonnenschein, Freiheit und eine kleine Blume muss man haben.« Die Lehrer, Eltern und Erzieher jener Kreuzberger Schule haben den Schmetterling wohl gekannt. Damals, gleich nach der Jahrtausendwende, setzten sie sich erstmals zusammen, weil sie unzufrieden waren mit dem tristen, asphaltierten Schulhof und dem mit Platten ausgelegten Innenhof. Sonnenschein, Freiheit und eine kleine Blume - Kinder brauchen das so wie Schmetterlinge. Vor allem in Kreuzberg, wo auf jeden Einwohner nur fünf Quadratmeter Grünfläche kommen. Und ganz besonders im verkehrslauten Kiez an der Baerwald- und Gneisenaustraße, wo der nächstgelegene Park die berüchtigte Hasenheide ist, kein idealer Ort für Kinder …

Sechs Jahre nach der ersten Zusammenkunft, im Spätsommer 2006, wurde der umgestaltete Schulhof der Reinhardswald-Grundschule eingeweiht. Was heißt »Schulhof«? Ein Paradiesgarten! Ein naturnaher Spiel- und Bewegungsraum mit Ruhe- und Erlebnisinseln auf Hügeln und in sanften Senken. Hier wird durchgeblüht. Im frühen Frühjahr beginnen die Kornelkirschen, bevor die Magnolie ihr Prunkkleid anlegt und Kuhschellen, Tulpen und Narzissen die Köpfe aus dem Boden recken. Die Deutzien putzen sich ab Ende Mai, gefolgt von wildem Jasmin und Fasanenspieren, die ihr Feuerwerk im Sommer zünden, wenn Lilien und Lavendel ihren Duft verströmen und die Sonnenblumen leuchten. Noch im Winter bilden seltene Gehölze kugelförmige Blüten aus, die um die Weihnachtszeit in den Zweigen hängen und passenderweise Schneebälle heißen.

Jetzt hat der Herbst die Platanen gelb und die Eichen rostrot gefärbt. Hagebutten, die Früchte der Rosen, die man auch Rosenäpfel nennt, schmücken wie purpurne Perlen die Büsche. Zwischen all dem gewundene Wege, Baumhäuser, Wigwams, ein dunkler Teich, ein Hainbuchenlabyrinth mit Tastpfaden, ein Leuchtturm mit Rutschgelegenheit, ein Amphitheater, eine Dschungelwelt, ein Wasserlauf, ein Wasserspielplatz, Sportflächen, Weidenhütten und ja, obwohl das gesamte Gelände ein einziger großer Schulgarten ist: So etwas wie einen traditionellen kleinen Schulgarten gibt es auch.

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Zwar kriecht die Kälte schon unter die Jacken, doch sind dort heute Mädchen und Jungen der Klasse 5c zu Gange. Niemand muss hier arbeiten, aber jede und jeder darf. Die Gartenfläche ist parzelliert, die 5c hat das Beerenstück übernommen. Die Erdbeeren sind dieses Jahr Geschichte, ebenso Stachel-, Johannis- und Brombeeren; die Sträucher verlieren gerade die Blätter. Unkraut muss gejätet werden. Da »Schulgarten« kein Lehrfach ist, will das Beerenstück in den großen Pausen und nachmittags bewirtschaftet werden. Kein Problem in der Ganztagsschule, eher sinnvolle Ergänzung.

Annegret Seifert, gelernte Gärtnerin und Freie Künstlerin mit Diplom, leistet den Schülerinnen und Schülern Gesellschaft. »Annegret« ist eine fröhliche, eindeutig kindkompatible Person, die ihre Schützlinge beiläufig und unaufdringlich an die Hand nimmt. Und siehe, da wachsen noch Wilde Möhren. Annegret Seifert hat sie mit den Kindern kultiviert, nun dürfen sie das Gemüse ernten und, nachdem es gewaschen ist, zu ihrem Pausenbrot verzehren. Auch der Kräutergarten ist heute mal für die Selbstbedienung geöffnet. Dort wachsen, alles zu seiner Zeit, Pfefferminze, Schnittlauch, Rosmarin, Thymian, Salbei, Oreganum, Zitronenmelisse und - Bohnenkraut. Bohnenkraut, wer weiß schon, warum, ist bei den jungen Gärtnern der Renner.

An dieser Stelle sei erwähnt, dass kaum ein Kind ohne Pausenbrot in der Reinhardswald-Schule erscheint. Vor einigen Jahren war das noch anders. Das Viertel ist gentrifiziert, Hartz IV-Eltern nicht in der Überzahl. »Unsere Eltern«, sagt Regina Todt, Klassenlehrerin der 5c, gehören zur »grünen gehobenen Mittelschicht.« So enthalten die Verpflegungsboxen denn auch Vollkornbrotschnitten und Möhrenschnitze, und Sprüche wie »Schön, dass es mich gibt« stehen auf den Trinkflaschen.

Sowohl Annegret Seifert als auch Regina Todt finden den »kleinen« Schulgarten für die Kinder »total wichtig«. Er vermittelt den »engen Kontakt zur Natur, lehrt sie Staunen und wie das Jahr abläuft, macht sie kreativ und erzieht zur Selbstständigkeit. Ganz wichtig: Er weckt Beschützerinstinkte.« Wenn der »Jugendreport Natur«, von Umwelt- und Jagdverbänden zuletzt 2010 in Auftrag gegeben, Jugendlichen attestiert, sie seien »naturentfremdet«, mag das alarmistisch sein. Doch kein Grund, dem nicht vorzubeugen.

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Regina Todt unterrichtet seit 1985 an der Reinhardswald-Grundschule. Ihre Fächer sind Deutsch, Geschichte, Erdkunde und Kunst. Vor allem die Kunst war es, die sie gleich anfangs mit Annegret Seifert verband, deren Schaffensschwerpunkt auf der Bildhauerei liegt. Davon später.

Die jetzige 5c von Regina Todt hat die Zeit, in welcher der kleine und der große Schulgarten entstanden, nicht miterlebt. Als Nutznießer wird sie die Idee vielleicht bewahren und fortführen können. Was war das für eine Zeit! Von der Unzufriedenheit mit den damaligen Gegebenheiten bis zum Paradiesgarten war es ein langer, steiniger Weg. Steinig, weil es zunächst galt, die vielen Steine loszuwerden. Wie macht man das? Was will man statt dessen? Man sieht sich andere Schulhöfe an und stößt dabei mit etwas Glück auf den Arbeitskreis »Grün macht Schule« des Berliner Senats. Man erfährt von »Zukunftswerkstätten«, bei denen Schülerinnen und Schüler ihre Ideen und Wünsche entwickeln. »Partizipation« heißt das in der Sprache der Wissenschaft, auf gut Deutsch versteht man darunter: Die Zielgruppe wird einbezogen und die Sache, so es gut läuft, von der Planung bis zur Ausführung zu deren eigener.

An der Reinhardswald-Schule lief es gut. Auch, weil Regina Todt und Rektor Werner Munk nicht locker ließen. Ideen hatten die Kinder reichlich, unter anderem wünschten sie sich eine Skateboardbahn, einen Fahrradparcours, ein Trampolin, einen Streichelzoo, eine Kletterwand, sogar ein Schwimmbecken. Nicht alles ließ sich auf dem 20 600 Quadratmeter großen Schulgelände umsetzen. Aber manches.

Man begann mit dem ungepflegten und verwilderten Innenhof. Nein, man wurde die Platten nicht los. Wollte es letztlich auch nicht mehr. Man stapelte sie, überzog sie mit Gabionen, stellte Findlinge aus der Lausitz darauf, setzte ein Holzmosaik in den Boden, »pflanzte« nackte Robinienstämme, die wie Skulpturen anmuten. »Die Arbeit hat allen Spaß gemacht«, erzählt Regina Todt. »Überall, wo wir angerufen haben, fanden wir Unterstützung. Die Kinder haben viel selbst gemacht, angeleitet von den Firmen, die eine Engelsgeduld bewiesen. Die wären allein viel schneller gewesen.« Heute können die Kinder im Innenhof spielen, lernen, lesen - und feiern: Kühlschrank, Spüle und Grill sind im Hof installiert.

Auf dem Außengelände entstand nach und nach besagter Paradiesgarten. Lassen wir das Rigolensystem beiseite, das das Wasser auf dem Gelände hält und aus ökologischer Sicht ein Hit ist, und bleiben bei der Entstehungsgeschichte. Den Entwurf hatte das Landschaftsplanungsbü- ro E.F.E.U. geliefert. Als im Jahr 2004 die Architektin Katharina Sütterlin und Annegret Seifert zu dem Projekt stießen, richteten sie eine Schülerbaustelle ein - auf 900 Quadratmetern sollte ein »Sinnesgarten« entstehen. Sie organisierten und begleiteten das Baugeschehen. Zunächst fertigten die Mädchen und Jungen Modelle ihrer Traumobjekte, die sie integriert sehen wollten. Und wie schon beim Bau des Innenhofes legten sie dann wieder mit Hand an: karrten Erde, schippten Sand, verteilten Rindenmulch, zogen Gräben, mischten Beton an, pflasterten Wege, pflanzten Hecken, schnitten und bündelten Weiden, montierten Holzwände, sorgten für Essen und Getränke. Mit Annegret Seifert schufen sie kleine Kunstelemente - mit fröhlichen Mosaiken verzierte Skulpturen, Mäuerchen und Sitzbänke. Ein Schulgarten im besten Sinne entstand: Wann hätte polytechnischer Unterricht, wenn auch kein Stundenplanfach und nicht so benannt, jemals so viel Spaß gemacht und Kindern so viel gebracht?

Doch Schluss mit Lyrik, ein harter Fakt: Neben Zuwendungen von Sponsoren konnte die Reinhardswald-Grundschule über 1,3 Millionen Euro aus dem Europäischen Umweltentlastungsprogramm verfügen. »Na dann, kein Wunder«, könnte man sagen. Sagt es aber besser nicht. Hinterhergetragen hat man ihr keinen Cent. Und auch ein paar Nummern kleiner sind möglich.

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Im Rahmen des Wettbewerbs »Kinder zum Olymp« der Kulturstiftung der Länder errang die Kinderbaustelle einen Preis. Überhaupt räumt die Schule Preise ab: So wurde sie »Lenné-Schulgarten 2012«. Sonnenschein, Freiheit und eine kleine Blume - das ist ganz im Sinne der Lenné-Akademie, einem Zusammenschluss von Freunden und Förderern von Gartenbau und Gartenkultur vornehmlich aus Berlin und Brandenburg, die seit einigen Jahren in der Bundeshauptstadt einen Schulgartenwettbewerb austrägt. Der setzt auf die Kraft des Beispiels und versteht sich als Impuls zur Neugestaltung Berliner Schulgärten. Etwa 300 gibt es noch davon. In Sachsen-Anhalt dagegen ist die Zahl der Schulgärten auf 100 geschrumpft.

Ein Verlust? Ein empfindlicher.

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