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  • Politik
  • Zum Tode von Rosalinda Ossietzky-Palm

Sie wollte nicht nur Tochter sein

  • Jochen Reinert
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn es irgendwie ging, war sie jedes Jahr zum Menschenrechtstag Anfang Dezember aus Stockholm zur Verleihung der Ossietzky-Medaille der Liga für Menschenrechte nach Berlin gekommen. Doch letztes Jahr, als die Tür kinnen Simin Behbahani und Monireh Baradaran geehrt wurden, war Rosalinda von Ossietzky-Palm fern geblieben, obwohl ihr mutige Frauen wie diese über alles gingen. Körperliche Beschwerden waren aufgetaucht, die Anfang dieses Jahres übermächtig werden sollten.

Peter Weiss hat die Tochter des Friedensnobelpreisträgers Carl von Ossietzky in seiner »Ästhetik des Widerstands« zu einer literarischen Figur erhoben, wiewohl sie eigentlich nie erhoben werden wollte. Das Flüchtlingskind aus Deutschland, zunächst in Britannien zwischen den Russeis und Huxleys lebend, hatte schließlich Asyl in Schweden gefunden, war warmherzig aufgenommen, spät ak zeptiert worden. »Emigrant sein und Frau sein«, lässt Weiss sie sagen, »das ist eine doppelte Reduzierung... Beides zugleich ertragen, das überstieg meine Kräfte.« Doch sie überwand all die kleinen Demütigungen, auch die brüske Ablehnung als Schauspielelevin am Staatstheater Dramaten wegen ihres Fremdseins.

Rosalinda fand ihre Heimat im schwedischen Wohlfahrtsstaat, indem sie beinahe zwei Dezennien lang dessen Verlierer - entwurzelte Umsiedler aus Nordschweden, Alkis (Alkoholsüchtige), junge Drogenabhängige oder ganz einfach vereinsamte, verzweifelte Menschen aller Altersgruppen – als Sozialarbeiterin betreute. Parallel zur journalistischen Arbeit hatte sie Sozialwissenschaften studiert und so ihre Berufung gefunden. Als Mitinitiatorin der sozialen Nachtpatrouillen rings um die Stockholmer Altstadt und »Erfinderin« der ersten: schwedischem Telefonfürsorge gehört sie zu den aner kannten Pionieren der schwedischen Sozialarbeit. »Dagens Nyheter« nannte ihr soziales Wirken in Stockholm in einem Artikel zu ihrem 75. »legendarisch«. Jene doppelte Reduzierung hat sie in doppelte Motivierung verwandelt. Sie wollte nicht nur als Tochter eines Friedensnobelpreisträgers beachtet werden.

In all den Jahren hat sie aufmerksam verfolgt, wie die Nachwelt, insbesondere die deutsche, mit ihrem Vater und dessen Vermächtnis umging. Hier musste sie er leben, wie noch Heiner Geißler ihren Vater, einen der wenigen konsequenten Verteidiger der Weimarer Republik, mitverantwortlich für deren Untergang machte und wie die niedersächsischen Politiker 20 Jahre lang verhinderten, dass die Oldenburger Universität nach Ossietzky benannt werden konnte. In der DDR gab es Derartiges nicht, wie sie auch bei ihren Besuchen in der von ihrer Mutter Maud 1946 in Ostberlin wiedergegründeten »Weltbühne« feststellen konnte. Aber sie verweigerte sich jedweder Instrumentalisierung. Den 1989 gestifteten Ossietzky-Preis des DDR-Friedensrates nahm sie im Wendeoktober, voller Unverständnis über den Verweis kritischer Schüler von der Pankower Ossietzky- Oberschule und wohl ahnend das historische Desaster des ostdeutschen Staates, wortlos entgegen.

Ermutigung fand sie immer wieder im Zusammenwirken mit den jungen Ossietzky-Streitern in Oldenburg oder Esterwegen, aber auch im Gespräch mit Freundinnen und Freunden aus dem Umkreis der »Weltbühne«. Ihre tiefe Enttäuschung über die Arroganz der deutschen Justiz, die die von ihr und einem Kreis namhafter Richter und Rechtsanwälte angestrengte Wiederaufnahme des »Weltbühnen-Prozesses« und damit die juristische Rehablitierung ihres Vaters verweigerte, konnte ihr niemand nehmen. Wenn sie je nach dem Tode ihres Mannes, des Journalisten Björn Palm, Anfang der 90er Jahre daran gedacht hätte, in ihre Geburtsstadt Berlin zurückzukehren, namentlich die bundesdeutschen Richter Egbert Weiss und Alexander von Stahl haben ihr dies gründlich ausgetrieben.

»Nein, ich hatte eigentlich nie die Absicht zurückzugehen«, sagte sie mir bei unserem nunmehr letzten Gespräch in ihrer Stockholmer Wohnung letzten November- »Ich bin hier verwurzelt, mein Sohn Ebbe Palm, der Maler, lebt hier, die Familie meines Mannes...« In weiterem Sinne sah sie ihre Heimat in der Ideenwelt ihres Vaters: »Ich identifiziere mich mit seinen demokratischen und Friedensideen«. Für diese, Ideen, erinnert sich der langjährige »Weltbühnen«-Chefredakteur Peter Theek, ist die Wahlstockholmerin immer standhaft eingetreten. Sie freute sie beispielsweise über die Aktion der vier größten schwedischen Zeitungen, mit der Veröffentlichung der Fotos und Daten von 62 einheimischen Neonazis ein Signal gegen deren Verbrechen zu setzen. Aber sie meinte auch, es dürfe nicht bei Artikeln bleiben: »Ich will Sorge tragen, dass mein Vater und andere Nazi-Gegner nicht ver gessen werden. Wir wissen nicht, ob sie den Wiener Durchmarsch Haiders noch bewusst wahrnahm. Am Dienstagabend ist sie im Stockholmer Huddinge-Krankenhaus gestorben.

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