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  • Politik
  • Machtkampf in der Tageszeitung »junge Welt« vorläufig beendet

Rettungsversuch

  • David Mendel
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Machtkampf in der Tageszeitung «junge Welt» ist vorläufig entschieden. Das ist das Fazit der Ver Sammlung der «Linken Presse Genossenschaft», die die Mehrheitsanteile an der Zeitung hält. Nach einer siebenstündigen, teilweise sehr emotionsgeladenen Diskussion bestätigten die anwesenden Genossen am Sonnabend mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit die Ende Januar vom Aufsichtsrat verfügte Amtsenthebung des Vorstandes und machten somit den Weg für einen personellen Neuanfang frei. Der Entscheidung vorausgegangen war ein wochenlanger erbitterter Machtkampf innerhalb von Redaktion und Verlag, der die Zeitung, die mit einer täglichen Auflage von 15 000 Exemplaren erscheint, an den Rand der Selbstzerstörung geführt hatte. Hintergrund der Auseinandersetzungen sind unterschiedliche Auffassungen über die Geschäftsstrategie des Verlages, die Arbeitsweise der Redaktion und die inhaltliche Ausrichtung der Zeitung. Der Vorstand wollte, unterstützt von der Chefredaktion, die Kompetenzen des Geschäftsführers Dietmar Koschmieder in Personalfragen beschneiden, um die Einstellung einer neuen Kollegin zu verhindern. Nachdem dies scheiterte, wurde die weitere Zusammenarbeit mit dem Geschäftsführer offen boykottiert. Nach der daraufhin erfolgten Suspendierung des Vorstandes meldeten sich Chefredakteur Holger Becker, sein Stellvertreter Werner Pirker sowie drei weitere Kollegen in kur zen Abständen krank und sind seitdem nicht mehr zur Arbeit erschienen. Die große Mehrheit der Belegschaft zeigte sich empört über dieses Verhalten und unter stützte bei einer Mitarbeiterversammlung ausdrücklich den Suspendierungsbeschluss.

Die Genossenschaftsversammlung musste nunmehr eine Entscheidung fällen. Der abgesetzte Vorstand hatte dazu rechtswidrig eine eigene Einladung ver schickt, in der massive Vorwürfe gegen den Geschäftsführer erhoben wurden. Sie seien über die Modalitäten der Kreditver gäbe der Genoss.enschaft an den Zeitungsverlag «getäuscht» worden und hätten sich deshalb zur Selbstanzeige bei der Staatsanwaltschaft entschlossen, hieß es in einem Brief von zwei Vorstandsmitgliedern an die Genossen. Der abgesetzte Vor sitzende Uwe Soukup erneuerte auf der Versammlung diese Vorwürfe und beschuldigte Koschmieder mehrerer Straftaten, u.a. der Untreue und der Konkursverschleppung. Ein anwesender Vertreter des Genossenschaftsverbandes Berlin- Brandenburg konnte dies jedoch schnell entkräften. Die abgegebenen «Rangrück trittserklärungen» für die Kredite der Genossenschaft gegenüber dem Verlag seien ein übliches Verfahren, um eine bilanztechnische Überschuldung zu vermeiden. Die Forderungen der Genossenschaft an den Verlag seien im Fall eines Insolvenz Verfahrens ohnehin nachrangig.

In der weiteren Debatte erhoben viele der anwesenden Mitarbeiter schwere Vorwürfe gegen den Chefredakteur Holger Becker. Durch die von ihm gegen den Willen der Redaktionsmehrheit durchgesetzte fast tägliche Präsentation des Autors Harald Wessel sei der Zeitung schwerer Schaden zugefügt worden. Wessel, der auch unter verschiedenen Pseudonymen veröffentlicht, hatte unter anderem die «überzogenen» Forderungen jüdischer Zwangsarbeiter mit den Reparationszahlungen Deutschlands nach dem ersten Weltkrieg verglichen. Allgemein wurde der Chefredaktion vorgeworfen, nicht genehme Standpunkte sowohl in der Redak tion als auch in der Zeitung rigoros zu unterdrücken. Die Mehrheit des alten Vorstandes unterstützte diese Linie.

Unmittelbar nach der von den Genossenschaftsmitgliedern bestätigten Amtsenthebung wurde von einer Mitarbeiter Versammlung ein neuer Vorstand gewählt dem u.a. der Berliner PDS-Politiker Olaf Albrecht angehört. Diese Sitzung wurde von der Chefredaktion und drei weiteren Redakteuren boykottiert. Trotzdem zeigte sich Geschäftsführer Koschmieder optimistisch für die Zukunft. Man werde jetzt alle Kraft darauf verwenden, die Zeitung als linkes Medium in Ost- und Westdeutschland weiter zu profilieren. Um das ökonomische Überleben zu gewährleisten hat der Verlag eine «Rettungskampagne» unter dem Motto: «Tausend neue Abos - sonst Kuckuck» gestartet.

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