Bürgergeldreform: Verfassungsmäßigkeit zweifelhaft

Neue Grundsicherung nimmt mit Kabinettsbeschluss die nächste Hürde

  • Maria Neuhauss
  • Lesedauer: 4 Min.
Beim Jobcenter soll zukünftig wieder die schnellstmögliche Vermittlung in Arbeit im Fokus stehen. Schon nach Ablehnung eines Arbeitsangebots kann Betroffenen der komplette Regelsatz gestrichen werden.
Beim Jobcenter soll zukünftig wieder die schnellstmögliche Vermittlung in Arbeit im Fokus stehen. Schon nach Ablehnung eines Arbeitsangebots kann Betroffenen der komplette Regelsatz gestrichen werden.

Nach langen Verhandlungen haben sich SPD und CDU am Mittwoch auf einen Kompromiss bei der Bürgergeldreform geeinigt: Der Kabinettsbeschluss sieht vor, dass Betroffene nach drei verpassten Jobcenter-Terminen noch einmal die Gelegenheit zum persönlichen Gespräch erhalten, bevor der komplette Regelsatz gestrichen wird. Der Entwurf von Sozial- und Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) hatte zunächst die Streichung der Bezüge an eine erfolgte persönliche Anhörung geknüpft; Vertreter*innen der CDU hatten dagegen auf einen sofortigen Leistungsentzug gedrängt. Mit dem Kompromiss geht der Gesetzeswurf nun zur Beratung an Bundestag und Bundesrat. Geplant ist, dass die neue Grundsicherung zum 1. Juli 2026 in Kraft tritt.

Um den Druck auf Leistungsbeziehende zu erhöhen, sieht die Gesetzesreform vor allem stärkere Sanktionen bei Terminversäumnissen und Pflichtverletzungen vor. Schon bei der Ablehnung nur eines Arbeitsangebots droht der komplette Leistungsentzug. Bei mehrfachen Ablehnungen können wie bei vier verpassten Terminen auch zusätzlich die Mietzahlungen eingestellt werden. Daneben wird die Karenzzeit bei dem Schonvermögen abgeschafft, seine Höhe bemisst sich fortan nach dem Lebensalter. Auch bei der Übernahme der Miete gibt es Änderungen: Anders als bisher sollen Unterkunftskosten schon im ersten Monat nicht mehr vollständig gedeckt werden, wenn sie deutlich über einer vom Jobcenter vorgegebenen Höhe liegen.

Sozialverbände kritisieren den Ansatz der neuen Grundsicherung als sozialpolitischen Rückschritt. In einer Pressemitteilung warnt der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) davor, dass die härteren Sanktionen zu mehr Wohnungslosigkeit und verschärften sozialen Problemen führen können. »Das Parlament muss jetzt nachbessern«, forderte DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel. AWO-Präsident Michael Groß teilte »nd« mit: »Während über strengere Sanktionen gesprochen wird, steigen die Preise für Lebensmittel seit Jahren massiv – um mehr als 36 Prozent. Gleichzeitig wurde das Bürgergeld bereits zum zweiten Mal in Folge nicht erhöht. Wer in dieser Situation den Druck erhöht, statt existenzielle Sicherheit zu schaffen, verkennt die Lebensrealität von Millionen Menschen.«

Kritik kommt auch von der Nationalen Armutskonferenz (Nak). Das Bündnis hält die Deckelung der Mietkosten auf das 1,5fache des örtlichen Mietspiegels für unrealistisch. Zudem sei den Leistungsbeziehenden nicht zuzumuten, künftig selbst die Mietpreisbremse gegen die Vermieter durchzusetzen. »Hier wird den am stärksten benachteiligten Personen die Pflicht auferlegt, sich allein gegen deutlich Stärkere durchsetzen zu müssen«, so die Nak in einem Statement.

Dabei steht zu bezweifeln, dass die Reform überhaupt verfassungskonform ist. Der Bundesgerichtshof hatte 2019 geurteilt, dass der Regelsatz nur um maximal 30 Prozent gekürzt werden darf. Eine Kürzung des kompletten Regelsatzes ist an strenge Vorgaben geknüpft. Einen Wegfall der Unterkunftskosten hat das damalige Urteil ganz ausgeschlossen.

Kalkulierter Verfassungsbruch

Helena Steinhaus von Sanktionsfrei e.V. hält die Reform deshalb für einen kalkulierten Verfassungsbruch. Der Verein bietet Bürgergeldempfänger*innen juristische und finanzielle Unterstützung an. Steinhaus zufolge versuche die Bundesregierung, das klare Urteil von 2019 zu umgehen. »Statt die Sanktion als Leistungsminderung nach Paragrafen 31 oder 32 SGB II zu deklarieren, für die die Rechtsprechung eindeutig ist, will sie vermutlich auf andere Paragrafen ausweichen, über die bisher nicht verfassungsrechtlich geurteilt wurde«, sagte Steinhaus gegenüber dem Berliner Mieterverein. Dabei spekuliere die Regierung auf die Zeit: Es werde wohl viele Jahre brauchen, bis die Reform durch das Bundesverfassungsgericht geprüft sei.

Der Sozialverband VdK teilte bereits mit, eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht zu prüfen. Auch Sanktionsfrei erwägt eine strategische Klage und mobilisiert dafür Unterstützer*innen. Zeitgleich läuft weiter eine Kampagne des Vereins, die Bürger*innen dazu auffordert, CDU- und SPD-Abgeordnete mithilfe einer Vorlage direkt anzuschreiben. Der Verein hofft, die geplante Verschärfung so in letzter Minute noch abwenden zu können.

Wir sind käuflich. Aber nur für unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser*innen und Autor*innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen

Mit »Freiwillig zahlen« machen Sie mit. Sie tragen dazu bei, dass diese Zeitung eine Zukunft hat. Damit nd.bleibt.