- Politik
- Hans Richter: »Zwischen Böhmen und Utopia«
Wie war das mit der DDR-Germanistik?
Verglichen mit den Auseinandersetzungen um Schriftsteller der DDR blieb es nach der Wende um die Literaturwissenschaft verhältnismäßig ruhig. Das gilt selbst für die Germanistik, der doch in Deutschland seit eh und je ein hoher Stellenwert im System nationaler Bewusstseinsbildung zugemessen wurde. Ausschließlich als marxistisch orientierte Gesellschaftswissenschaft und Instrument zur Steuerung kulturpolitischer Prozesse verstanden, war aber die Literaturwissenschaft der DDR unter den veränderten Bedingungen von vornherein diskreditiert und wurde so weitgehend stillschweigend ins Vergessen gestürzt. Ihre Vertreter wurden zumeist abgewickelt und durch mehr oder minder qualifizierte West-Importe ersetzt, wichtige institutionelle Grundlagen wie die Akademie der Wissenschaften liquidiert.
Keine Frage natürlich, dass der zu DDR- Zeiten oft sehr kurzsichtige politische Pragmatismus in diesem Bereich ziemlich verheerend gewirkt hat. Ich weiß wahr haftig, wovon ich schreibe. Dennoch wird aber künftig noch aufzuarbeiten sein, dass es auch wertvolle wissenschaftsmethodisch weiterführende Ansätze gegeben hat und teilweise durchaus beachtliche Leistungen vollbracht wurden.
Vorliegender Sammelband belegt das einsichtig. Bezeichnenderweise erschien er nicht in einem der renommierten Wissenschaftsverlage, sondern bei einem mutigen kleinen Thüringer Unternehmen. Er stellt Abhandlungen und Essays des langjährigen Jenenser Germanisten Hans Richter vor, die zwischen 1961 und 1998 entstanden sind, thematisch von der Klassik bis zur DDR-Literatur reichen und sich auf die drei literarischen Hauptgattungen erstrecken. Sprachlich geschliffen, in überzeugender wissenschaftlicher Beweisführung und mit jeweils aktuellem Zugriff demonstrieren sie wichtige Gegenstände seiner Tätigkeit als Forscher und Hochschullehrer. Ein Lebensbild Gottfried Kellers, dem sein frühes Interesse galt, zeigt die Fruchtbarkeit des methodischen Herangehens. Dem böhmischen Thema widmet sich der in Liberec Geborene mit Arbeiten zu Rilke, Fürnberg und Fühmann. Der umfangreichste Text handelt von Johannes R. Becher, den Verfasser verwandtschaftlich anrührend als der auf seinen verschlungenen Lebenswegen stets qualvoll Ringende. Größte Sensibilität beweist ein eindrucksvoller Text von 1982 über Paul Celan. Gegen die These vom «verordneten Antifaschismus» operiert Hans Richter mit einer Analyse der Entwicklung Franz Fühmanns vom fanatischen Hitler-Anhänger zum bewusstkritischen DDR-Schriftsteller.
Letztere Arbeit verweist schon auf den zentralen-Bestandteil des Buches: ein Interview, in dem Richter sein Leben bilanziert. Befragt wird er dazu von Jürgen Schröder, einem Germanisten aus Tübingen, der sehr verständnisvoll auf das von seinem so unterschiedliche Leben des Kollegen eingeht und den vorherrschenden Umgang mit DDR-Biografien als «anmaßend und unmoralisch» empfindet. Der aber dennoch viele gängige Klischees aufruft und dadurch verdeutlicht, wie groß die Differenz zwischen der Innenund der Außensicht auf das Dasein in der DDR ist. Hans Richter bekennt sich zwar freimütig zu Irrtümern und Fehlentscheidungen, stellt aber vor allem richtig, er läutert geduldig und wehrt gegebenenfalls den Realitäten widersprechende und aus den historischen Zusammenhängen gerissene Vorstellungen auch polemisch ab. Es ist erstaunlich, wie groß der Bedarf an konkretem Wissen und an Einblick in die tatsächlichen Verhältnisse des DDR-Wissenschaftsbetriebes selbst bei diesem Wohlmeinenden West-Kollegen ist.
Das Interview enthält quasi den Keim eines Entwicklungsromans, probiert manchmal auch bereits einen erzählerischen Gestus. Über Kindheit und Jugend Richters wird bis hinein in psychologische Eigenheiten und damit verknüpfte spätere Konsequenzen nachgedacht. Desgleichen über den tiefen Schmerz des Heimatver lustes, der, gemeinsam mit den Kriegser fahrungen, Impuls lebensbestimmender Entschlüsse wird.
Politische Biografie offenbart sich an den abgefragten Drehpunkten der Jahre 1953, 1956, 1968, 1989 einschließlich der Antwort auf die Frage, warum dieser Hochschullehrer, wie so viele DDR-Bürger, weder Dissident noch Oppositioneller gewesen ist, sondern eine Reformierung der gesellschaftlichen Strukturen anstrebte. Sichtbar werden die Bedingungen für die Arbeit eines Wissenschaftlers, ihre eklatanten Hemmnisse objektiver wie subjek tiver Art, aber auch ihre Möglichkeiten und lohnende Ergebnisse. Erinnert wird die überaus spannungsvolle Begegnung von Literaturwissenschaftlern und Schriftstellern, auch die gut ausgebaute Zusammenarbeit mit den Kollegen aus den Ostblock-Ländern und der völlig nor male Umgang von Wissenschaftlern aus vielen Gegenden der Welt mit den DDR- Germanisten. Vorgänge und Tatsachen, die heutzutage aus dem öffentlichen Bewusstsein fast völlig verschwunden sind.
Hans Richter- Zwischen Böhmen und Utopia. Literaturhistorische Aufsätze und Studien. Jenaer Studien. Hrg. u. Günter Schmidt., Band 4 Verlag Dr. Bussen & Stadeler. 444 Seiten, gebunden, 68,20 DM.
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