Studierende in der Türkei fordern Rechtssicherheit

Willkürliche Aberkennung von Studienabschlüssen wie bei Ekrem İmamoğlu stößt auf breiten Widerstand

  • Svenja Huck
  • Lesedauer: 3 Min.
Die CHP veranstaltet eine Reihe von Kundgebungen, um gegen die Inhaftierung von Ekrem İmamoğlu zu protestieren.
Die CHP veranstaltet eine Reihe von Kundgebungen, um gegen die Inhaftierung von Ekrem İmamoğlu zu protestieren.

Die Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu hat im März 2025 Zehntausende zu spontanen Protesten mobilisiert. Die meisten forderten die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien und die Einhaltung demokratischer Werte. Doch noch bevor İmamoğlu seines Amtes enthoben und inhaftiert wurde, hatte ihm die Universität Istanbul seinen Studienabschluss aberkannt. Gegen diese Entscheidung formierten sich umgehend Studierendenproteste, erst in Istanbul, dann im ganzen Land. Das Video, auf dem zu sehen ist, wie entschlossene Jugendliche eine Polizeikette durchbrechen, ging viral und mobilisierte in den folgenden Tagen Zehntausende.

Was ist das eigene Studium noch wert?

Die Studierenden betonten damals immer wieder: Es geht auch um uns und unsere Zukunft. Denn wenn sogar einem Bürgermeister das Zertifikat ohne stichhaltige Beweise aberkannt werden könne, was ist dann das eigene Studium noch wert? Gegen diese Ungewissheit und mangelnde Rechtsstaatlichkeit protestieren türkische Studierende jedoch nicht erst seit İmamoğlus Verhaftung.

Die politische Organisierung an den Universitäten ist zwar massiver Repression ausgesetzt, sowohl von staatlicher Seite als auch von bewaffneten faschistischen Strukturen, aber dennoch präsent. Angesichts großer politischer Prozesse wie dem gegen İmamoğlu rückt dies hin und wieder in den Hintergrund. Dabei ist die längerfristig angelegte Politisierung und Organisierung der eigenen Kommiliton*innen ebenso relevant wie die Fähigkeit zur spontanen Mobilisierung zu Protesten.

Ein Beispiel hierfür ist die Jugendorganisation der Türkischen Arbeiterpartei TİP (Türkiye İşçi Partisi). Die TİP, gegründet 2017 und neben der HDP auch Teil der Allianz für Arbeit und Freiheit, sitzt derzeit mit drei ihrer vier gewählten Abgeordneten im Parlament. Ihr Anspruch ist es, auch außerhalb des Parlaments verankert zu sein, unter gewerkschaftlich organisierten Arbeiter*innen aber auch unter Jugendlichen.

TİP-Jugend stürmt Veranstaltung

Eine Protestaktion während des Gipfeltreffens des türkischen Bildungsministeriums Anfang Dezember brachte die TİP-Jugend in die Nachrichten. Sie stürmten die Veranstaltung, um gegen das MESEM-Programm zu protestieren. Das vom Bildungsministerium eingerichtete Zentrum für Berufsausbildung (MESEM) organisiert für Schüler*innen mit mittlerem Schulabschluss eine Art Berufsausbildung, die pro Woche einen Tag Theorie und vier Tage Praxis umfasst. Kritisiert wird, dass die Schüler*innen dort nur rund ein Drittel des Mindestlohns verdienen und somit eher der Bedarf der Arbeitgeber günstig gedeckt wird, als dass tatsächlich eine Berufsausbildung stattfindet. Laut TİP sollen dieses Jahr außerdem bereits 85 Schüler*innen bei Arbeitsunfällen oder durch direkte Gewalt am Arbeitsplatz ums Leben gekommen sein. De facto bedeutet dies Kinderarbeit, die aber viele Jugendliche annehmen, um den Lebensunterhalt ihrer Familie stemmen zu können. Laut dem türkischen Bildungsminister Yusuf Tekin nahmen im vergangenen Jahr 420 000 Schüler*innen am MESEM-Programm teil und eine Ausweitung des Angebots ist bereits geplant.

Von den Protestierenden der TİP-Jugend wurden derweil 16 Studierende verhaftet. Ihnen wird Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Sachbeschädigung vorgeworfen. Ihre Parteigenossen organisieren derweil Solidaritätsaktionen in der Türkei und international. So gab es Grußbotschaften von Mitgliedern des Sozialistischen Studierendenverbands SDS und vom Berliner Linken-Abgeordneten Ferat Koçak. Außerdem wurde dazu aufgerufen, den Inhaftierten Briefe zu schreiben, um sie zu unterstützen. Unter den Inhaftierten sind bekannte Gesichter, die auch während der Proteste gegen die Absetzung von İmamoğlu und für die Verteidigung demokratischer Rechte in der Türkei zentral beteiligt waren. Ob Bürgermeister oder Student – Opposition gegen die Herrschenden und ihre Politik kann schnell mit Freiheitsentzug bestraft werden, und jeder Widerstand ist es wert, dass über ihn berichtet wird.

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