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Prozess gegen Neonazis: Ein Skandalurteil soll repariert werden
Verfahren um Angriff auf Journalisten im thüringischen Fretterode wird neu aufgerollt
Die Angeklagten wollen erst einmal schweigen. Doch Verteidigerin Nicole Schneiders rammt schon einmal den ersten Pflock ein. »Mein Mandant ist genauso schutzwürdig wie die Nebenkläger«, sagt die umtriebige Szeneanwältin. Vor dem Landgericht in Mühlhausen hat am Montag die Neuauflage des sogenannten Fretterode-Prozesses begonnen. Es geht um einen brutalen Angriff von Neonazis auf Journalisten. Und um den Versuch, das skandalös milde Urteil zu reparieren, das eine andere Strafkammer des thüringischen Gerichts vor mehr als drei Jahren verkündet hat.
Erst einmal möchte Schneiders erreichen, dass ihr Mandant Gianluca K. seine Adresse nicht öffentlich nennen muss. Schließlich müssten das die beiden Männer, die K. zusammen mit seinem Kumpan Nordulf H. im April 2018 gejagt, attackiert und schwer verletzt haben soll, auch nicht. Doch die Erzählung vom angeblich gefährdeten Neonazi verfängt bei der Strafkammer nicht. Und so erfährt die Öffentlichkeit, dass der mittlerweile 31-Jährige Gianluca K. seit dem ersten Prozess nicht nur geheiratet hat, sondern im thüringischen Eichsfeld auch ein paar Dörfer weitergezogen ist.
Bald acht Jahre liegt die Tat mittlerweile zurück. Damals lebte Gianluca K. noch in Fretterode und war ein Vertrauter des einflussreichen Kameradschaftsführers und Szene-Unternehmers Thorsten Heise. Der Bundesvize der Neonazipartei »Die Heimat« (damals noch NPD) residiert im Zentrum des kleinen Dorfs in einem Gutshaus.
Zwei auf Recherchen im militant rechten Milieu spezialisierte Journalisten aus Göttingen wollten an jenem Tag ein vermutetes Neonazitreffen auf Heises Anwesen dokumentieren. Gianluca K. und Heise-Sohn Nordulf jagten ihren Opfern im Auto hinterher – und als deren Wagen in einem Graben gelandet war, stürzten sie sich bewaffnet mit Messer, Baseballschläger, Reizgas und einem riesigen Traktorschraubenschlüssel auf sie und verletzten sie schwer. Einer der Journalisten erlitt einen Schädelbruch, der andere eine Stichwunde im Bein.
»Die Gesinnung, die aus der Tat spricht, muss sich im Strafmaß wiederfinden.«
Sven Adam Nebenklageanwalt
Im ersten Prozess hatten die Beschuldigten die Gewalt weitgehend eingeräumt, sich aber damit zu rechtfertigen versucht, dass sie lediglich ihr Recht am eigenen Bild hätten durchsetzen wollen. Außerdem hätten die Journalisten zweimal versucht, Nordulf H. zu überfahren, hatten sie behauptet. Das Gericht nahm ihnen das ab. Es erkannte weder einen gezielten Angriff auf die Presse noch eine vorrangig politisch motivierte Tat und stufte den Gewaltexzess als »minder schweren Fall« ein. Vom strafrechtlich schwerwiegendsten Vorwurf – dem Raub der Kameraausrüstung – wurden die Angeklagten freigesprochen.
Das Urteil sorgte bundesweit für einen Aufschrei in Politik, Medien und journalistischen Interessenvertretungen: Gianluca K. sollte mit einer zwölfmonatigen Bewährungsstrafe und Nordulf H., der bei der Tat noch Heranwachsender gewesen war – mittlerweile ist er 26 –, mit 200 Stunden gemeinnütziger Arbeit nach dem Jugendstrafrecht davonkommen.
Doch im März 2024 hob der Bundesgerichtshof (BGH) das Urteil als »durchgreifend rechtsfehlerhaft« auf und ordnete an, dass das Verfahren noch einmal ganz neu aufgerollt werden muss. Der BGH bescheinigte dem Thüringer Gericht, gegen grundlegende Regeln verstoßen zu haben: Aussagen würden in der Urteilsbegründung »nur selektiv« wiedergegeben, Angaben »aus dem Gesamtzusammenhang gerissen«, es fehle an einer »sorgfältigen Gesamtwürdigung sämtlicher be- und entlastender Indizien«. Selbst auf eine Binsenweisheit musste der BGH hinweisen: »Das Landgericht verkennt zudem, dass ein Widerspruch zwischen zwei Zeugenaussagen nicht bedeuten muss, dass beide die Unwahrheit sagen.«
Insbesondere machten die Karlsruher Richter*innen deutlich, dass sie den Freispruch für den Raub der Kamera für nicht tragbar halten. Angeklagt ist dieser als schwerer Raub. Mindeststrafe nach Erwachsenenstrafrecht: fünf Jahre Haft. Bewährung wäre damit ausgeschlossen.
Rechtsanwalt Sven Adam vertritt einen der beiden Journalisten. Das erste Urteil des Landgerichts in diesem Prozess sei ein »Urteil der Schande« gewesen, sagte er vor der erneuten Verfahrenseröffnung. Von ihr erhofft Adam sich, dass das Gericht endlich die neonazistische Tatmotivation anerkennt. »Die Gesinnung, die aus der Tat spricht, muss sich im Strafmaß wiederfinden«, sagt der Nebenklagevertreter. Und: Der Angriff dürfe nicht erneut zum minder schweren Fall verharmlost werden. Aber eben das sei nach sieben Jahren Verfahrensverschleppung zu befürchten – weil nur so verhindert werden könne, dass Gianluca K. doch noch hinter Gitter muss.
Dass das Gericht den Prozessbeginn noch auf den letzten Drücker in diesem Jahr ansetzte, dürfte an einer von Adam erhobenen Verzögerungsrüge liegen. Denn eilig hatte es die Justiz in dem Verfahren nie. Dessen überlange Dauer kommt den Angeklagten zugute: In solchen Fällen ist ein Strafrabatt unausweichlich.
Kritik am Verhalten der Thüringer Justiz kommt unterdessen auch von Journalistenverbänden. »Der Fretterode-Prozess ist ein Präzedenzfall dafür, wie der Rechtsstaat angegriffene Journalist*innen im Stich lässt«, erklärte Elena Kountidou, die Geschäftsführerin der Neuen deutschen Medienmacher*innen.
Der Prozess wird am 12. Januar mit der Befragung der angegriffenen Journalisten fortgesetzt. Insgesamt sind noch sieben Termine bis Mai 2026 angesetzt.
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