Achteinhalb Jahre Haft für heimliche sexuelle Übergriffe

Landgericht Aachen verurteilt Fernando P. wegen jahrelanger Misshandlungen und digital verbreiteter Aufnahmen seiner Frau

  • Leonie Förderreuther und Cora Dollenberg
  • Lesedauer: 7 Min.
»Die Scham muss die Seite wechseln« – diesen Satz hat Gisèle Pélicot geprägt, die von ihrem Ehemann sexuell misshandelt wurde und ihr Schicksal öffentlich machte.
»Die Scham muss die Seite wechseln« – diesen Satz hat Gisèle Pélicot geprägt, die von ihrem Ehemann sexuell misshandelt wurde und ihr Schicksal öffentlich machte.

Hinter dem historischen Backsteingebäude des Gerichts erhebt sich in einem weiten Hof der dreistöckige Neubau des Aachener Justizzentrums. Für die Presse sind im Erdgeschoss eines hellen, holzvertäfelten Saals mit hohen Decken rund zwanzig Plätze reserviert, nicht alle sind besetzt. Dahinter, in zwei Reihen, sitzen etwa zehn Zuschauende.

Kurz nach zehn Uhr betritt Fernando P. den Raum. Die Kapuze hat er tief ins Gesicht gezogen, seine Haltung ist gekrümmt, auch noch, als er Platz nimmt. Zwei Justizbeamte begleiten den Angeklagten. Handschellen trägt er nicht. Dafür seinen Ehering.

Der 61-Jährige aus Stolberg wird an diesem Morgen, dem 19. Dezember, zu acht Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Nach Überzeugung des Gerichts hat er seine Frau über Jahre hinweg in der gemeinsamen Wohnung heimlich gefilmt, betäubt, sexuell missbraucht und vergewaltigt. Die Frau, die im Prozess als Nebenklägerin auftritt, ist bei der Urteilsverkündung nicht anwesend. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Petra Follmar-Otto, frühere Ministerialdirektorin in der Abteilung Gleichstellung des Bundesministeriums für Familie und Soziales, überrascht der Prozess in Aachen nicht. »Wir wissen aus den Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik, dass Partnerschafts- und sexualisierte Gewalt in Deutschland schrecklicher Alltag sind«, sagt die studierte Juristin am Telefon.

Friedlich wirkt dieser Alltag am Donnerstagnachmittag in Stolberg. In der Kleinstadt, rund elf Kilometer östlich von Aachen, wurde P. im Februar 2025 festgenommen. Etwa fünfundzwanzig Minuten benötigt die blau-rote Euregiobahn vom Aachener Hauptbahnhof bis zum Stolberger Rathaus. Nach wenigen Gehminuten durch die westfälisch-graue Innenstadt weichen die trist verputzten Bauten aus den Sechzigerjahren bunten Fachwerkhäusern. Die Straßen sind leer, die meisten Menschen noch bei der Arbeit. Die Sonne scheint.

Der Angeklagte Fernando P. im Gerichtssaal in Aachen.
Der Angeklagte Fernando P. im Gerichtssaal in Aachen.

Am Tag darauf beginnt im Saal die Urteilsverkündung. Die Vorsitzende Richterin Daniela Krey fasst die Taten zusammen. Dabei achtet sie darauf, die Privatsphäre der Betroffenen zu wahren, die während des gesamten Prozesses anonym bleibt. Krey schildert, dass die Ermittlungen ab dem Jahr 2018 in mehreren Fällen Betäubungen, sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen nachweisen konnten, darunter auch Fälle der schweren Vergewaltigung. Darunter fasst das Strafgesetzbuch Vergewaltigungen, die unter schwerer körperlicher Misshandlung begangen wurden. Die Sedierung wertet das Landgericht als schwere Körperverletzung.

In der Begründung nennt Krey zudem die serielle Enthemmung des Angeklagten sowie die zunehmende Intensivierung der Taten über den Tatzeitraum hinweg als strafverschärfende Umstände. Eine Schwere der Schuld begründet die erste große Kammer des Landgerichts Aachen außerdem mit der digitalen Verbreitung der Aufnahmen. Denn dadurch habe der Angeklagte sie einer »nicht messbaren Anzahl an Personen zur Verfügung gestellt«, so die Vorsitzende Richterin.

Lücken bei der Strafbarkeit

Geschlechtsspezifische Cyberkriminalität ist für eine juristische Bewertung oft herausfordernd. Für eine Strafbarkeit reiche es oft nicht aus, entsprechendes Material anderen Menschen zugänglich zu machen, erklärt Follmar-Otto. »In der EU-Richtlinie gegen Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt wird diese Cyberkriminalität deutlich akzentuierter als bisher im deutschen Recht thematisiert«, sagt sie. Daher werde geprüft, ob Strafbarkeitslücken geschlossen werden müssen. Die meisten User hätten nur »wenig Furcht vor Verfolgung des eigenen Verhaltens«.

Das zeigt sich auch im Fall Fernando P. Zwar führten Ermittlungen des Bundeskriminalamts zur Identifizierung des 61-Jährigen – allerdings erst, nachdem Journalisten auf einschlägige Chatgruppen hingewiesen hatten. Das berichten WDR und »Spiegel« übereinstimmend. Ein Messengerdienst stellte dem BKA daraufhin die IP-Adressen der Nutzer dieser Gruppen zur Verfügung. Auf diese Weise konnte der Angeklagte identifiziert werden. Es brauche eine stärkere Priorisierung von Online-Ermittlungen, meint auch Follmar-Otto. Häufig sei das aber eine Frage von Ressourcen, Zeit und Geld.

In den Chatgruppen stand Fernando P. im Austausch mit anderen Nutzern. Es handele sich dabei um Menschen, erklärt Follmar-Otto, bei denen »augenscheinlich überhaupt kein Unrechtsbewusstsein« bestehe. Ob ein fehlender Abschreckungseffekt den Angeklagten zu seinen Taten ermutigt hat, bleibt offen.

Bereits 2008 soll er heimlich Kameras in der gemeinsamen Wohnung in Stolberg installiert haben. Weil seine sexuelle Begierde nicht befriedigt gewesen sei, habe er begonnen, pornografische Inhalte zu konsumieren und in der Folge ein Interesse an der Anfertigung heimlicher Aufnahmen entwickelt, heißt es in der Urteilsverkündung. Ihm sei bewusst gewesen, dass seine Frau diese Aufnahmen ausdrücklich ablehnen würde. Daraufhin habe er begonnen, die Betroffene zu betäuben.

Physische und digitale Gewalt

Studien zeigten, dass digitale Gewalt gegen Frauen im Netz »sehr häufig geschlechtsspezifisch und sexualisiert« sei, erklärt Follmar-Otto. Auch wird Partnerschaftsgewalt im digitalen Raum oft fortgesetzt – etwa durch Tracking-Apps, den Zugriff auf Online-Banking oder, wie im Fall Fernando P., durch das Teilen von Aufnahmen aus dem höchstpersönlichen Lebensbereich. Als eine Ursache dieser Form geschlechtsspezifischer Gewalt nennt Follmar-Otto zudem ein Männlichkeitsbild, das sich stark über Macht, Dominanz und Kontrolle definiere. Mit Blick auf die Strafbarkeit der Nutzer und mögliche Strafverschärfungen für solche Taten würde es sicher weiter Diskussionen geben, sagt sie.

Bei den von P. begangenen Taten habe es sich laut Urteilsverkündung um eine »hochsituative Konstellation« gehandelt, weshalb von ihm keine Gefahr für die Allgemeinheit ausgehe. Die Kammer in Aachen ordnet daher keinen Maßregelvollzug in einer Klinik im Anschluss an die Haftstrafe an. Bei seiner Festnahme im Februar 2025 habe der Angeklagte gegenüber der Polizei ein unmittelbares Geständnis abgelegt und sein Mobiltelefon umgehend ausgehändigt. Sein Geständnis und die sichergestellten Dateien hätten die Beweisführung erheblich beschleunigt, sagt Krey bei der Urteilsverkündung.

Nach der Urteilsverkündung verlagert sich die Aufmerksamkeit ins Atrium des Justizzentrums, wo sich Presse und Schaulustige versammeln. Auf der Galerie im ersten Stock bilden sich kleine Menschentrauben. Die Anwältin der Nebenklägerin, Nicole Servaty, muss bei einigen Fragen der Journalist*innen kurz überlegen. Der Fall ist nicht der einzige vor der großen Strafkammer, den sie derzeit betreut. Das Gericht sei »sehr sensibel mit dem Verfahren und der Nebenklägerin umgegangen«, sagt sie. Die Betroffene habe nur an einem der sieben Verhandlungstage teilgenommen. Dennoch habe ihre Mandantin, so Servaty, »in diesem Verfahren wirklich eine Stimme gehabt«. Ihr Plädoyer habe noch einmal deutlich gemacht, wie erheblich die Folgen der Taten für die Betroffene selbst und ihre Familie seien. Darauf hat auch die Vorsitzende Richterin Daniela Krey während der Urteilsverkündung verwiesen.

Der Prozess ist ein besonderer – nicht nur wegen der Schwere der Taten, sondern auch wegen der Verbindung von physischer und digitaler Gewalt. Mit Ausnahme der Anklageverlesung am 11. November und der Urteilsverkündung fanden sämtliche Verhandlungstermine unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Sowohl die Verteidigung als auch die Betroffene hatten dies beantragt.

Grundsätzlich sind Gerichtsverfahren in Deutschland öffentlich zugänglich. Soll die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, wägt das Gericht den Schutz der Privatsphäre der Verfahrensbeteiligten gegen das öffentliche Interesse ab. Im Aachener Verfahren habe man die Aufklärung und Wahrheitsfindung in den Vordergrund stellen wollen, berichtet Katharina Effert, Pressesprecherin des Landgerichts Aachen, nach der Urteilsverkündung. Um das Leid der Nebenklägerin und ihrer Familie nach Möglichkeit nicht weiter zu vertiefen, habe das Gericht dem Antrag entsprochen.

Gisèle Pélicot hat sich im vergangenen Jahr anders entschieden. Sie wollte die Täter öffentlich mit ihren Taten konfrontieren. Wichtig sei aber, meint Follmar-Otto, dass Betroffene von sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt »das Recht haben zu entscheiden, ob das Strafverfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit oder öffentlich stattfinden soll«.

Was bleibt von dem Prozess? Das Urteil in Aachen fällt am 19. Dezember – genau ein Jahr nach dem Urteil in Avignon im Fall Pélicot. In beiden Verfahren tritt die strukturelle Dimension geschlechtsspezifischer Gewalt erdrückend deutlich zutage. »Wir haben es hier nicht mit außergewöhnlichen Einzelfällen zu tun«, sagt Follmar-Otto. Bereits die Zahl der Nutzer in den einschlägigen Chats zeige, dass die Taten weit über Ausnahmefälle hinausgingen.

Die Anwältin der Nebenklägerin, Nicole Servaty, will sich zu möglichen Parallelen zwischen Avignon und Aachen gegenüber der Presse nicht äußern. Stattdessen lenkt sie den Blick noch einmal auf ihre Mandantin. Das Urteil werde das Geschehene nicht ungeschehen machen, sagt sie, »aber vielleicht hilft es ein Stück, die Dinge zu bewältigen und zu verarbeiten«.

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