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Ist Liebe nur eine Zwangsneurose?

Studien belegen: Die Biochemie des menschlichen Bindungsverhaltens beruht auf einem gestörten Serotonin-Gleichgewicht

  • Lesedauer: 5 Min.

Von Martin Koch

Lange glaubten die Historiker, dass die romantische Liebe eine Erfindung des Mittelalters und daher ex klusiv für die westliche Lebensweise sei. Diese Auffassung wurde von der Verhaltensforschung jüngst widerlegt. In 147 von 166 Kulturen, so stellten die US- Anthropologen William Jankowiak und Edward Fischer in einer 1992 veröffentlichten Studie fest, gehören romantische Liebesbeziehungen zum sozialen Alltag: »Die Liebe ist ein universelles Phänomen. Sie ist der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält.«

Evolutionsbiologen vermuten sogar, dass die Ursprünge der Liebe bis weit in unsere stammesgeschichtliche Vergangenheit zurückreichen. Ihre Erklärung dafür klingt plausibel: Durch den aufrechten Gang hatte sich die Konstruktion des Skeletts so verändert, dass unsere weiblichen Vorfahren ihre Kinder bereits nach neun Monaten Schwangerschaft als vergleichsweise unfertige Wesen zur Welt bringen mussten. Vor allem der große Kopf des Neugeborenen, der von der Größenzunahme des Gehirns herrührte, machte jeden späteren Geburtstermin zum tödlichen Verletzungsrisiko für die Mutter. Bei der nachgeburtlichen Reifung seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten brauchte der menschliche Nachwuchs viel Zuwendung, die unter den harten Bedingungen der Vorzeit nur ein vollständiges Elternpaar zu gewährleisten vermochte. Um sozusagen ein frühes Aussterben des Homo sapiens zu verhindern, musste die Evolution das Kunststück fertig bringen, Frau und Mann zumindest für die Zeit der Kinderbetreuung fest aneinander zu binden. Da die Sexualität dafür nicht ausreichte, entwickelte sich auf ihrer Grundlage ein verlässlicheres Gefühl: die Liebe.

Was auf den ersten Blick wie ein geniales Kalkül der Natur anmutet, war allein das Resultat evolutionärer Zufälle. Das heißt: Menschen, die per Mutation ein »liebesfähiges« Gehirn erwarben, kümmerten sich effektiver um ihre Kinder, die daher häufiger überlebten und die ererbte Liebesfähigkeit in der Generationenfolge weitergaben - bis zu uns. Während all jene Menschen, die nicht zur Liebe fähig waren, und deren Nachwuchs häufiger und früher starb, aus unserer unmittelbaren Vorfahrenreihe ausschieden.

Doch was ist Liebe? Nach Auffassung des US-Neurobiologen Michael Liebowitz nichts weiter als eine Hirnaktivität, die von einer biochemischen Stimulation des Limbischen Systems ausgelöst wird. Zwei chemische Stoffe scheinen in diesem Prozess eine Schlüsselrolle zu spielen. Erstens eine dem Adrenalin ähnliche Substanz namens Phenylethylamin, die Menschen aufgeregt und unbesonnen macht und ihre erotische Neugier beflügelt. Und zweitens das Neurohormon Oxytozin, dessen vermehrte Produktion unsere emotionale Bindungsfähigkeit steigert, wie James Winslow von der Emory Universität in Atlanta zumindest im Tierexperiment bestätigen konnte: Sobald er bei Mäuserichen das Oxytozin-Gen zer störte, verloren diese jede Erinnerung an ehemalige Sexualpartnerinnen. Ganz egal, wie oft sie bereits mit einer Maus kopuliert hatten, sie beschnüffelten diese bei jedem neuen Kontakt genau so lange wie beim ersten Mal. Normale Mausmänner indes reduzieren beim häufigen Sex mit einer ihnen bekannten Mäusedame das Herumschnüffeln auf ein Minimum.

Neben dem Limbischen System ist auch die Großhirnrinde an der Herausbildung unserer Liebesgefühle beteiligt. Andreas Bartels und Semir Zeki vom University College in London scannten mit Hilfe eines Magnetresonanz-Tomographen die Gehirne von 17 Versuchspersonen, die zuvor versichert hatten, unsterblich verliebt zu sein. Tatsächlich registrierte der Apparat in vier Gehirnregionen eine starke Aktivität, sobald die Versuchspersonen Fotos ihrer Partner zu sehen bekamen. Nichts dergleichen geschah, wenn man ihnen Fotos von anderen Menschen vorlegte.

Zwei der »Liebesregionen« befinden sich im so genannten Striatum, einem Teil des mesolimbischen Dopaminsystems, das angenehme Erfahrungen biochemisch belohnt und damit gleichsam ihre Nachahmung empfiehlt. Die beiden anderen liegen in der Hirnrinde, und zwar genau dort, wo auch euphorisierende Drogen wirken.

Obwohl die Liebe in unserer Gesellschaft als Ausdruck höchster seelischer Reife gilt, lassen viele Verliebte sich zu Taten hinreißen, die ihnen unter anderen Umständen eher peinlich wären. Nicht umsonst nannte der spanische Philosoph Jose Ortega y Gasset die Verliebtheit einen »Zustand seelischer Armut, der das Leben unseres Bewusstseins verengt, verödet und lähmt«. Statt frei und selbstbestimmt zu handeln, fühlen Verliebte sich häufig durch lästige Denkzwänge blockiert. Hirnforscher vermuten, dass ein Über maß an Oxytozin die neuronalen Regelkreise unseres Gehirns so programmiert, dass wir wiederholt an den geliebten Partner denken müssen. Nach einer Umfrage verbrauchen Verliebte dafür etwa 70 bis 85 Prozent ihrer wachen Zeit. Offenkundig geht die Evolution auf Nummer sicher, um das Überleben des menschlichen Nachwuchses zu garantieren: Denn je öfter wir diese neuronalen Regelkreise benutzen, desto mehr verfestigen sie sich. Mit der Konsequenz, dass mancher auch dann noch an einem geliebten Menschen hängt, wenn dieser ihn längst verlassen hat. Seine Liebesschaltkreise im Gehirn sind weiterhin aktiv und werden erst langsam wieder abgebaut.

Einen überraschenden Befund erhob kürzlich die Psychiaterin Donatella Marazitty von der Universität Pisa, als sie die Gehirnchemie von frisch Verliebten mit der von Menschen verglich, die unter zwanghaften Verhaltensanomalien leiden. Diese nennt der Mediziner »Obsessive Compulsive Disorders«, abgekürzt OCD Sowohl Verliebte als auch OCD-Patienten können stundenlang über eine Sache oder einen Menschen nachgrübeln, ohne dass es dafür rationale Gründe gäbe. In beiden Fällen ist Serotoninmangel die Ursache, wie Marazitty feststellte. Aber während OCD-Kranke Medikamente schlucken müssen, um ihren Serotoninspiegel zu normalisieren, schaffen Ver liebte dies nach wenigen Monaten aus eigener Kraft.

Das heißt: Bei vielen Menschen geht der bisweilen zermürbende Zustand ekstatischer Verliebtheit nach einer gewissen Zeit in eine eher entspannte Gefühlslage über. Dabei drosselt das Gehirn die Ausschüttung der aufputschenden Hormone und produziert statt dessen vermehrt Endorphine. Das sind morphiumähnliche Substanzen, die uns glücklich und zufrieden, aber auch abhängig machen. Kommt es nach einer unglücklichen Trennung zu einem Endorphinentzug, machen sich all die heftigen körperlichen und psychischen Symptome bemerkbar, die wir landläufig als Liebeskummer bezeichnen. Dieser soll die zerstrittenen Partner veranlassen, es noch einmal miteinander zu versuchen, selbst wenn es dafür heute keine evolutionäre Notwendigkeit mehr gibt.

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