Zur Schnäppchenjagd in Slubice
Ob Digimon oder Fleisch vom Rind - der «Polenmarkt» lockt deutsche Käuferscharen Weihnachtstour
Von Manna Mai
Als Jana Andersen die Abteiltür öffnet, schlägt ihr Schnapsgeruch entgegen. Der Regionalexpress von Berlin nach Frankfurt (Oder) ist voll. Die Studentin, die übers Wochenende ihre Eltern in der Oderstadt besucht, findet Platz inmitten einer Reisegruppe. Eine Frau, die schon ein paar kräftige Züge genommen hat, erzählt einen Witz. Eine Reihe weiter vorn schlichtet eine Mutter einen Streit zwischen ihren Kindern.
«Seit unsere Kinder nicht mehr an den Weihnachtsmann glauben, fahren wir jedes Jahr gemeinsam zum Weihnachtseinkauf nach Slubice,» sagt Karin Wolf aus Berlin, die mit Mann und drei Kindern im Zug sitzt. 40 Mark kostet das Wochenendticket für die ganze Familie. Damit die Investition sich lohnt, muss ordentlich eingekauft werden. Der Jüngste aus der Familie, der achtjährige Tobias, wünscht sich Digimonfiguren. Seine älteren Schwestern haben keine konkreten Wünsche. «Ich will mal gucken, ob es modische Pullover gibt», sagt Julia, die Zwölfjährige. Aber auch an CDs ist sie interessiert. Karin Wolf hat die Wunschliste ihrer Cousine mit. Einen Katzenkorb soll sie ihr kaufen, eingelegte saure Pilze und ebenfalls Digimonfiguren. Angekommen auf der Frankfurter Bahnhofs-Baustelle fragen sich die Polen-Schnäppchenjäger nach dem Weg zur Oderbrücke durch. Wann der Bus fährt, kann Frau Wolf nicht in Er fahrung bringen.
Jana Andersen ist längst zu Fuß auf dem Nachhauseweg. Abstecher in die Nachbarstadt Slubice machen für die Studentin im November und Dezember keinen Sinn. Warum soll sie ewig auf der Oderbrücke zwischen Schnäppchenjägern aus Berlin, Göttingen und Potsdam warten? Der preiswerte Friseurbesuch in Slubice kann bis Januar warten wie der Einkauf von leckerem polnischen Brot oder preiswerten Schreibblöcken. Und ihre Kopien fertigt die Studentin in der Vorweihnachtszeit ausnahmsweise in Berlin.
Es ist kalt auf dem Bahnhofsvorplatz. Margit Weber aus Magdeburg kann nicht auf den Bus warten, ihre Jacke ist für die Jahreszeit zu dünn. In Polen will sie eine neue kaufen. Sie zwängt sich mit ihrem Mann und den Skatfreunden, mit denen sie gemeinsam anreiste, in ein Taxi. Das fährt bis zur Oderbrücke. Vom anderen Oderufer aus fahren polnische Kleinbusse direkt auf den Markt.
Für die 51 Jährige ist das die erste Polenfahrt seit der Wende. «Bis 1980 sind wir jedes Jahr nach Szczecin zum Weihnachtseinkauf gefahren», erinnert sie sich. Dann kamen mit der «Solidarnosc»- Opposition Reisebeschränkungen für DDR-Bürger, die reine Einkaufsfahrten unattraktiv machten. Und zehn Jahre später interessierten die neuen Einkaufsmöglichkeiten im eigenen Land mehr als die Märkte in Polen.
Bis 1980 zog ein Trödelbasar DDR-Touristen und -einkäufer magisch an. Selbstgeschneiderte und gefärbte Blusen, Haar spangen in allen Größen, handgemalte Ketten aus Holz und Glas, Ledertaschen und Schuhe boten eine modische Alternative zur Kleidung der DDR-Planwirtschaft. Da sah manch einer darüber hinweg, dass Bauern neben dem Blusenstand selbstgeschlachtete Hühner feilboten.
Von den Ledertaschen einmal abgesehen, hat der riesige Basar in Slubice, der ein wenig außerhalb der Grenzstadt liegt, nichts von dem allen zu bieten. Die Ver kaufsstände sind parzelliert, überdacht und nicht wie damals dort errichtet, wo es dem Verkäufer gefiel. Wer Kleidung ver kauft, hat fabrikgefertigte Massenwaren mit aktuellen Kultfiguren im Angebot. T Shirts mit aufgedruckten Ash und Pikachu von den Pokemon, Pullover mit Digimonfiguren und Leggins mit Mickymausaufdrucken oder Arielle. CDs mit den neuesten Musiktiteln liegen ebenso aus wie Videokassetten mit aktuellen Disneyfilmen. Selbstverständlich auf Deutsch. Polen kommen nicht zum Einkaufen auf diesen Basar.
Jeder auf dem Markt bezahlt in D-Mark. Das spart den Weg zur Wechselstube. Polnisch wird allenfalls gesprochen, wenn sich der Verkäufer vom Spielzeugstand bei seinem Standnachbarn vom Imbiss einen Kaffee oder Glühwein holt. Gerade einmal die Korbwaren, Keramikartikel oder die original polnische Dauerwurst vermitteln eine Ahnung davon, dass man in Polen ist. In einem Stück Polen, das mit dem Land dahinter nicht viel gemein hat. Hier ist alles auf die Schnäppchenjäger aus Deutschland ausgerichtet.
«Wolltest du nicht schon lange eine neue Küchenuhr kaufen?» Karin Wolf steht am Keramikstand und willigt in den Vorschlag ihres Mannes ein. Es gibt Uhren in der Form eines Blumenstraußes und einer Gießkanne. Statt aus Keramik sind die allerdings aus bemaltem Gips. Die Ver kaufswäre ist ganz nach den Geschmack der Kunden ausgerichtet. Denn in Polen, das wissen die polnischen Händler, wollen Deutsche vor allem billig einkaufen. Am Nachbarstand lassen Badegarnituren in Marienkäfergestalt die Wolfschen Herzen höher schlagen. Karin Wolf benötigt keine Badegarnitur. Aber als die Verkäuferin sie für 27 statt der ausgepreisten 30 Mark hergeben will, willigt sie ein. Würde die Schwiegermutter sich über ein geflochtenes Tablett oder einen geflochtenen Wäschekorb freuen?
Die Magdeburgerin Margit Weber hat ihre neue Jacke gleich angezogen. Die hat
nur 90 Mark gekostet. An der Elbe hätte sie 30 Mark mehr hinlegen müssen. Frau Weber schaut nach Lebensmitteln. Sie packt rasch das Nötigste ein. Brot und Butter, Äpfel, die aussehen wie aus dem eigenen Garten, und Eier, die von glücklichen Hühnern sein sollen. Am Fleischstand ist eine Schlange. Hat man schon einmal was von BSE in Polen gehört? Das wäre doch eine Möglichkeit, wieder einmal Rindfleisch zu kaufen.
Am Marktausgang trifft sich die Skatrunde vollgepackt neben dem Parkplatz der Kleinbusse. Auf dem Rückweg passen nur vier Leute in das Gefährt und nicht mehr neun wie zur Hinfahrt. Die vielen Einkaufstüten und Körbe müssen schließlich irgendwo verstaut werden.
In der Warteschlange am Grenzüber gang treffen sich die morgendlichen Tagestouristen wieder. Mehr als den Marktplatz haben sie von Polen nicht gesehen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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