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Mit der falschen Theorie zur richtigen Praxis

Vor 100 Jahren starb der deutsche Chemiker und Arzt Max von Pettenkofer

  • Lesedauer: 4 Min.

Von Martin Koch

In der «Encyclopaedia Britannica», einem international renommierten Lexikon, sucht man seinen Namen als Schlagwort vergebens. Das ist einigermaßen verwunderlich, denn Max von Pettenkofer gilt heute als Begründer der wissenschaftlichen Hygiene.

Berühmt wurde er schon zu Lebzeiten durch einen Vorfall, der sich am 7 Oktober 1892 im hygienischen Institut in München ereignete. Unter Aufsicht von Kollegen und Studenten schluckte Pettenkofer eine Bouillonkultur, in der sich rund eine Milliarde frischer Cholerabazillen befanden. Mit diesem leichtsinnigen Selbstver such wollte er beweisen, dass choleraver seuchtes Wasser allein nicht imstande ist, einen Menschen krank zu machen. Auch ein möglicher Misserfolg schreckte ihn nicht. «Ich bin 74 Jahre alt, leide seit Jahren an Glykosurie, habe keinen einzigen Zahn mehr im Munde und spüre auch sonstige Lasten des hohen Alters.» Zwar klagte Pettenkofer in den folgenden Tagen über Durchfall und starkes Kollern im Unterleib, doch sein Allgemeinbefinden blieb davon weitgehend unberührt. Nach einer Woche war er wieder völlig beschwerdefrei, lediglich in seinem Stuhl wimmelte es von Cholerabazillen.

Wie war Pettenkofer überhaupt an die gefährlichen Erreger gekommen? Nun, er hatte sie sich unter Angabe falscher Gründe aus dem Labor des Berliner Bakteriologen Robert Koch besorgt, den er zugleich als seinen größten wissenschaftlichen Gegenspieler ansah. Denn während Koch meinte, dass die Verbreitung der Cholerabazillen über das Trinkwasser erfolge, hielt Pettenkofer den Boden für das entscheidende Übertragungsmedium. Frst im Rnrien könne der Keim Her Seuche aus verfaulter organischer Materie jenes gasförmige Cholera-Miasma erzeugen, das über die Luft in die Häuser eindringe und dort die gefürchtete Krankheit her vorrufe. Eine unmittelbare Ansteckung von Mensch zu Mensch schloss Pettenkofer aus. Selbst der deutsche «Medizinerpapst» Rudolf Virchow war lange Anhänger der Bodentheorie und gab diese erst auf, nachdem Koch 1883/84 das Bakterium Vibrio cholerae als Erreger der Cholera identifiziert hatte.

Im Anschluss an diese Entdeckung grassierte in Deutschland die Bazillenangst. Heftig geschürt durch die Behauptung einiger Koch-Schüler, dass bereits eine Bazille genüge, um Cholera auszulösen. Noch war unbekannt, dass Menschen Erreger in sich tragen können, ohne daran zu erkranken. In diesem Sinne wirkte Pettenkofers Selbstversuch wie eine Art Befreiung. Denn er zeigte, dass Bakterien unterschiedlich virulent und Menschen verschieden disponiert für bestimmte Krankheiten sind. Oder anders ausgedrückt: Ob und wie schwer jemand an einer Seuche erkrankt, hängt nicht allein von der Existenz der Erreger ab.

«Die Kunst zu heilen kann viel Leid lindern, doch schön ist auch die Kunst, die es versteht, viel Leiden im Entstehen schon zu hindern», reimte Pettenkofer 1845. Bald darauf konnte er diese Einsicht praktisch demonstrieren. Er organisierte in München den Bau einer großen Schwemmkanalisation, die später auch anderen deutschen Städten als Vorbild diente. Und er setzte sich für eine bessere Versorgung der Bevölkerung mit Trink wasser ein: «Jede Stadt handelt vernünftig, dem Wasser unter den Genußmitteln eine hervorragende Stellung zu verschaffen.» Mit seinen energischen Maßnahmen verfolgte Pettenkofer letztlich das Ziel, den Boden rein zu halten und damit die Gefahr von Seuchen zu mindern. Obwohl seine Theorie im Ansatz falsch war, führte sie zu dem gewünschten Ergebnis: In München ging die Zahl der Typhustodesfälle zwischen 1859 und 1881 um mehr als 90 Prozent zurück.

Die Erfolge bei der Seuchenbekämpfung legten zugleich den Grundstein für die akademische Anerkennung der Hygiene. 1865 wurde Pettenkofer von der Univer sität München auf den ersten Lehrstuhl in dieser Disziplin berufen. Dennoch vergingen zwanzig und mehr Jahre, bis andere deutsche Hochschulen diesem Beispiel folgten. In Preußen war Virchow noch 1884 strikt dagegen, die Hygiene als eigenständiges akademisches Fach einzuführen. Doch diesmal wurde der Medizinerpapst überstimmt. Gegen Ende des 19 Jahrhunderts gab es in fast allen deutschen Großstädten hygienische Institute bzw. Gesundheitsämter. Zufrieden registrierte Pettenkofer diese Nachricht, die ihn ereilte, als er bereits pensioniert und schwerkrank war. Um nicht weiter dem Verfall seiner körperlichen und geistigen Kräfte ausgeliefert zu sein, schoss er sich am 10. Februar 1901 eine Kugel in den Kopf.

Erst im 20. Jahrhundert setzte sich in der Wissenschaft allgemein die Erkenntnis durch, dass Pettenkofer auch als Chemiker einer großen Entdeckung auf der Spur gewesen war- Um ein Haar hätte er bereits 1850 das Periodensystem der Elemente entdeckt. Damals wussten die Chemiker nur, dass die Elemente Calcium, Strontium und Barium in ihren chemischen Eigenschaften sowie in ihren Atomgewichten gewisse Ähnlichkeiten zeigen. Gleiches war für die Elemente Chlor, Brom und Jod bzw. Lithium, Natrium und Kalium bekannt. Pettenkofer erweiterte dieses System und fasste jeweils vier Elemente (wie Stickstoff, Phosphor, Arsen und Antimon) zu einer «chemischen Familie» zusammen. Um seine Hypothese experimentell untermauern zu können, beantragte er bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 200 Gulden. Als dieses Geld ausblieb, stellte er seine Untersuchungen zur tabellarischen Anordnung der Elemente ein. Erst 1869/70 legten der russische Chemiker Dmitrij I. Mendelejew und sein deutscher Kollege Lothar Meyer unabhängig voneinander die bis heute gültige Struktur des Periodensystems vor.

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