Endloses Totschweigen in Frankfurt (Oder)

Sabine H. ließ neun Babys sterben, viele schauten weg / Anklage und Urteil wurden Tat kaum gerecht

  • Claus Dümde
  • Lesedauer: 3 Min.
Geht es nach dem 2. Strafsenat des Landgerichts Frankfurt (Oder), muss die 40-jährige Sabine H., die zuließ, dass neun von ihr geborene Babys starben, wegen Totschlags lange Jahre Haft verbüßen. Ihr Urteil stützen die Berufs- und Laienrichter, vier von ihnen Frauen, mehr auf ihre Überzeugung von der Schuld der Zahnarthelferin als auf Beweise und Indizien.
»Lebenslang oder in 20 Monaten frei« hieß die Schlagzeile in »Bild« von gestern. Lebenslange Freiheitsstrafe hatte Staatsanwältin Anette Bargenda in ihrem Plädoyer gefordert, weil sie am Vorwurf des achtfachen Mordes festhielt, obwohl ihn das Gericht schon nicht zur Anklage zugelassen hatte und im Prozess nichts zur Sprache kam, was die Theorie stützte, die Angeklagte habe zwischen 1992 und 1998 acht Babys umgebracht, um die Tötung eines ersten im Jahre 1988 zu »verdecken«. »Nach 20 Monaten«, hatte der Verteidiger von Sabine H. auf die Frage gesagt, wann seine Mandantin frühestens freikommen könne. Rechtsanwalt Matthias Schöneburg hatte auf drei Jahre, sechs Monate Freiheitsentzug wegen - eines - Totschlags »im minderschweren Fall« plädiert. Sabine H. hatte bei Vernehmungen kurz nach Entdeckung der Reste der Baby-Leichen auf dem Grundstück ihrer Mutter in Brieskow-Finkenheerd und ihrer Festnahme gesagt, sie könne sich nur an die ersten beiden verheimlichten Geburten erinnern. Das erste Baby habe ein blaues Gesicht und Schaum vorm Mund gehabt und sei im Bad ihrer Wohnung in Frankfurt (Oder) in die Toilettenschüssel gefallen. Das nächste Kind brachte sie während einer Weiterbildung in Goslar heimlich in einer Pension zur Welt. Als eine Kollegin ins Zimmer kam, habe sie eine Decke über das wimmernde Baby geworfen, es dann in einen Mantel gehüllt und im Auto mit nach Frankfurt genommen. Erst dort habe sie festgestellt, dass es tot ist. An alle weiteren Geburten könne sie sich nicht erinnern, sagte sie. Wenn die Wehen einsetzten, habe sie sich stets betrunken - bis zur Besinnungslosigkeit. Der Ehemann und Zeugen bestätigten die Alkoholexzesse. Dennoch erklärte der vom Gericht bestellte Gutachter Sabine H. für voll schuldfähig. Er attestierte ihr einen IQ von 120, aber auch »Reifungsdefizite«, da das »begabte 17-jährige Mädchen, das dachte, die Welt steht ihr offen«, in kurzer Zeit dreimal Mutter und Hausfrau wurde. Einen »Nesthäkchenstatus« will er erkannt haben. Sie sei sehr zuwendungsbedürftig gewesen. Schon bei der dritten Schwangerschaft habe ihr Mann, der keine weiteren Kinder wollte, getobt, erzählte sie bei den Vernehmungen. Deshalb und aus Angst, ihr Mann lasse sich scheiden und erhalte als MfS-Mitarbeiter das Sorgerecht für die Kinder, habe sie die weiteren Schwangerschaften verheimlicht, aber immer gewartet, dass sie ihr Mann darauf anspricht. Arbeitskolleginnen und Nachbarinnen taten das wiederholt; sie habe dann stets eine Schwangerschaft abgestritten. Der Ehemann will das nicht einmal bemerkt haben, trotz sehr häufigem Verkehr. Ob ihm das Staatsanwältinnen und Gericht abnahmen, und warum, gehört zu den vielen offenen Fragen am Ende dieses Prozesses. Vieles spricht dafür, dass sie es hinnahmen, weil sie Oliver H. weder das Gegenteil noch Mittun beim »Bestatten« der Baby-Leichen auf dem Balkon der ehelichen Wohnung oder wenigstens Mitwisserschaft nachweisen konnten. Aber nachweisen konnte man auch Sabine H. nicht achtfachen Totschlag. »Die Beweisaufnahme hat mehr Fragen aufgeworfen, als klärende Antworten gegeben«, stellte Anwalt Schöneburg zutreffend fest. Das Gericht ist aber »überzeugt« davon, dass alle Kinder bei Geburt lebten und gesund waren. Indiz: Sabine H. hatte zuvor drei und später, nach der Trennung von ihrem Mann, ein viertes gesundes Kind zur Welt gebracht. Die neun anderen seien gestorben, weil sich die Mutter nicht um sie gekümmert hat, durch Atemlähmung infolge Unterkühlung. Ebenso widersprüchlich: Das Gericht räumte ein, dass Sabine H. in einer durch Angst vor Konflikten mit dem Ehemann »prägenden Konfliktlage« handelte, in der Frauen typischerweise »nicht ein noch aus wissen«. Aber Strafmilderung lehnte es ab, verhängte die Höchststrafe von 15 Jahren Haft. Überzeugend, geschweige denn zwingend ist das alles nicht. So bleibt der Verdacht, dass eine Strafe verhängt wurde, die nicht zu weit unter den Erwartungen eines Großteils der Bevölkerung liegt. Ausreichend Gründe für die Berufung.

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