Der Reiz des Nordens verblasst

Abwanderung in die USA verliert an Attraktivität, wenn in Mexiko die Perspektiven stimmen

  • Knut Henkel, Oaxaca
  • Lesedauer: 5 Min.
Über Jahrzehnte waren die USA das Ziel von Millionen von Auswanderern aus Mexiko. Ganze Landstriche in den armen Bundesstaaten des Südens entvölkerten sich. Doch das scheint sich langsam zu ändern.

In Villa Talea de Castro, einem Dorf in den Bergen Oaxacas, hat sich die Gemeinde so gut entwickelt, dass Abwanderung nicht mehr Usus ist. Die eigene Buslinie und das kommunale Radio zeugen genauso davon wie die steigende Kaffeeproduktion.

Chavelita steht auf dem Porzellanschild über dem Herd in dem kleinen Dorfrestaurant von Villa Talea de Castro. Hier trifft sich abends, wer keine Lust hat zu kochen, Fußball schauen will oder dem oder der nach einer Plauderei zum Tagesende ist. Chavelita und ihr Mann haben für diesen Fall immer drei bis vier Gerichte in ihrem großen Edelstahlkühlschrank und darin finden sich auch immer ein paar Flaschen kaltes Bier. Paladar nennen die Menschen von Villa Talea de Castro, die zwei oder drei kleinen Restaurants in ihrem Dorf.

Bei Chavelita hat die Familie einfach einen breiten langgestreckten Tisch in die geräumige Küche gestellt, woran zahlreiche Gäste Platz finden. An der Wand hängt ein überdimensionierter Flachbildfernseher. Etwas Unterhaltung muss schon sein und heute steht eines der Qualifikationsspiele der mexikanischen Nationalmannschaft an und selbst die Gastgeberin blickt hin und wieder hoch, während sie am Tisch eine Hose bügelt. »Den Fernseher hat mein Sohn aus den USA vor ein paar Monaten geschickt. Das ist wie Kino«, sagt sie stolz.

Doch anders als früher ist das Ehepaar von Ende fünfzig nicht mehr auf die Geldsendungen der beiden Söhne aus den USA angewiesen. Das Restaurant läuft ganz gut und durch die Arbeit auf der kleinen Kaffeeplantage und dem dazugehörigen Feld kommt das Ehepaar gut über die Runden. »Das geht vielen im Dorf so«, erklärt Keyla Moulemet Ramírez. Sie ist eine Zugezogene aus Mexiko-Stadt und ihrem Mann in die Berge der Sierra Norte de Oaxaca gefolgt. Der gehört wie die Mehrheit im Dorf dem Volk der Zapoteken an, die im Bundesstaat Oaxaca die Urbevölkerung stellen und sich mehr und mehr auf die eigenen Wurzeln besinnen. Keyla, die das Internet-Café des Dorfes aufgebaut hat, engagiert sich mit einem knappen Dutzend anderer Bewohner beim eigenen Radiosender. »Wir bemühen uns, dem Nachwuchs im Dorf ein Stück Identität mitzugeben, sie sollen wissen, wo sie herkommen«, sagt die sympathische, lebenslustige Frau. »Dizha Kiero Radio«, zu Deutsch unser Wort heißt der Radiokanal, der in dem von grünen Bergen umgebenen Dorf rund zwölf Stunden täglich empfangen werden kann.

»In Zacopeca«, sagt die Frau von Anfang dreißig, die die Sprache erst in Villa Talea de Castro wieder lernen musste. Denn nur noch die Alten kommunizieren dort in ihrer Muttersprache. Bei den Jungen dominiert Spanisch, aber sie sind stolz, dass es ihr Dorf geschafft hat, eine eigene Buslinie auf die Beine zu stellen und dass es auch bei der Vermarktung von Anbauprodukten wie Mais, Bohnen und vor allem Kaffee an einem Strang zieht. Dem Dorf geht es gut und bei der Jugend wird eher darüber nachgedacht nach Oaxaca zu gehen, um dort zu studieren oder sich weiterzubilden als den Weg nach Norden in Richtung USA zu gehen, erklärt der 25-jährige Alejandro López Canseco. Er arbeitet für die Stadtverwaltung als Computerspezialist und verschwendet keinen Gedanken daran auszuwandern. Das ist in mehreren Dörfern der Region, aber auch Chiapas immer öfter der Fall. Die Leute sind skeptisch geworden. Die Attraktivität der USA ist gesunken. Einerseits, weil die Reise immer gefährlicher, schwieriger und teurer wird, denn ohne Schleuser schafft es kaum mehr jemand. Andererseits, weil auch die Löhne in den USA längst nicht mehr so attraktiv sind wie einst. »Die Löhne der einfachen Arbeiter reichen oft nicht mehr, um den Lebensunterhalt in den USA und der Familie in Mexiko zu bestreiten und obendrein etwas Geld zur Seite zu schaffen. Das macht sich auch bei den Remesas, den Geldrücküberweisungen aus den USA nach Mexiko, bemerkbar. Sie gehen langsam zurück - 2012 um 1,6 Prozent laut einer Studie der Banca Bilbao Vizcaya Argentaria (BBVA), die zu den größten Banken in Lateinamerika gehört. 22,4 Milliarden US-Dollar wurden demnach 2012 nach Mexiko transferiert. Diese Milliarden sind nicht nur ein Eckpfeiler der mexikanischen Wirtschaft, sondern auch ein Eckpfeiler der Ökonomie der mexikanischen Familien. Rund 24,5 Prozent der Familieneinkommen entfallen laut Studien auf die Remesas. Gehen diese zurück, kann das negative Effekte für die Versorgung dieser Bevölkerungsschichten haben.

In Villa Talea de Castro war das nicht der Fall. Dort haben die Zurückgebliebenen die Remesas nicht nur konsumiert, sondern vor auch in die Landwirtschaft investiert. Nicht nur Mais, Bohnen, Kürbis und Obst werden auf den Feldern in den Tälern rund um die schmucke Bergstadt angebaut, sondern auch Kaffee. Der bildet heute das Rückgrat der regionalen Wirtschaft. Pedro Adolfo Bautista ist der Röstmeister des Dorfes. Der Mann von Mitte vierzig, der selbst auf zwei Hektar Kaffee anbaut, schätzt, dass pro Woche rund vierzig Tonnen Rohkaffee an die Ankäufer verkauft werden. Nun träumt er davon, dass das Dorf in den direkten Kontakt mit Kaffeeunternehmen in den USA oder Europa treten könnte. «Bessere Preise und mehr Unterstützung erhoffen wir uns, denn schließlich wird hier faktisch ökologisch angebaut», erklärt der Mann mit dem schütteren Haar an der Röstmaschine. Kaffeeproben will er demnächst verschicken.

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