Chemnitz hat sich neu erfunden

Von einstiger sächsischer Industriemetropole zur kunstsinnig spröden Schönen

  • Roland Mischke
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Dichter Stephan Hermlin wuchs in Chemnitz, dem Tor zum Erzgebirge, auf dem Kaßberg auf, einer Anhöhe über der Stadt mit Straßen voller Gründerzeitfassaden. »Von hier aus blickt man über Gärten weg auf den tiefer gelegenen Hauptteil der Stadt, die finster und verrußt ist und unzählige Fabrikschornsteine gegen einen hügeligen Horizont stellt«, schrieb er als junger Mann.

»Rußchemnitz«, auch »sächsisches Manchester« und in DDR-Zeit »Karl-Marx-Stadt« genannt, existiert nicht mehr. Der Kaßberg präsentiert sich als Architekturjuwel, die Altstadt rund um den Brühl, die im Zweiten Weltkrieg zu 85 Prozent zerstört wurde, ist mit Bauten verdichtet worden und Chemnitz nennt sich nun stolz »Stadt der Moderne«. Auf dem Schlossberg steht ein Schloss, auf das einst die Dresdner Feudalen neidisch waren, darunter auf dem Schlossteich schwimmen Schwäne. Es ist viel Grün im Stadtbild, am Rand des Küchwalds drehte einst Kati Witt auf Schlittschuhen ihre Runden und wurde später zweifache Olympiasiegerin und vierfache Weltmeisterin im Eiskunstlauf.

Unter den drei großen Städten des Königreichs Sachsen war Chemnitz der Motor, mit Personenkraftwagen von August Horch, mechanischen Webstühlen des Textilfabrikanten Moritz Samuel Esche und Dampflokomotiven der Sächsischen Maschinenfabrik. Sie alle sind im Sächsischen Industriemuseum, vor einigen Jahren mit dem Europäischen Museumspreis ausgezeichnet, zu besichtigen. Gewaltige Exponate im mächtigen, aufwendig sanierten Backsteingebäude mit riesigen Fenstern und 4000 Quadratmeter Ausstellungsfläche. Es entstand als Gießerei in der Zeit zwischen 1800 und 1905, als die Zahl der Einwohner um das Zwanzigfache auf 200 000 anwuchs. Aus Chemnitz stammt »Fewa«, das erste vollsynthetische Feinwaschmittel, hier befand sich das Weltmonopol an Damenstrümpfen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch Industrieprodukte, Alltagsgegenstände und Luxuserzeugnisse wurden in Serie produziert. Das war Fortschritt pur, deshalb: Stadt der Moderne.

Auch fortschrittliche Geister gab es in Chemnitz. Die Maler Karl Schmidt-Rottluff und die Künstlergruppe Clara Mosch agierten hier. Literaten und Publizisten wie Stephan Hermlin, Stefan Heym - nach dem ein Platz benannt ist -, Irmtraud Morgner, Kerstin Hensel oder Peter von Zahn hatten ihre Wurzeln in der Stadt. Auch Hedwig Courths-Mahler und Karl May haben, wenn auch keine gebürtigen Chemnitzer, viele Jahre in der Stadt gelebt. 1810 war Goethe da, der Dichterfürst erlebte die Chemnitzer Spinnmaschinen und nahm diesen Eindruck in »Wilhelm Meisters Wanderjahre« auf: »Das überhand nehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich, es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es wird kommen und treffen.«

Nach Fritz Heckert, führendes Mitglied des Spartakusbundes und später der KPD, ist ein Stadtviertel benannt. Zugleich residierte hier eine vermögende Bourgeoisie, darunter zahlreiche jüdische Familien, vor allem Fabrikanten. Die 1898 im maurischen Stil errichtete Synagoge am Stephansplatz, in der auch Nichtjuden im Synagogalchor sangen, brannten die Nazis 1939 nieder.

Bis zum Beginn der Nazizeit war Chemnitz Kunsthort. Der norwegische Maler Edvard Munch logierte lange Zeit beim Strumpffabrikanten Esche, der auch Bilder von van Gogh in seiner Villa hängen hatte. Sie ist heute eine Ikone des europäischen Jugendstils und kann besichtigt werden. Die Städtischen Kunstsammlungen Chemnitz galten bis 1933 als wichtigstes Avantgarde-Museum in Deutschland. Dann wurde die sogenannte »entartete Kunst« aussortiert. Der berühmte Max Liebermann kam neun Mal für große Porträts von Lola Leder, der Gattin des Großhändlers Leon Leder, in die Stadt.

Mit der Schwäbin Ingrid Mössinger wurde nach der Wende das kulturelle Selbstbildnis der Stadt revitalisiert. Die Chefin der Kunstsammlungen holte eine Picasso-Ausstellung nach Chemnitz, und Bob Dylan zeigte dort erstmals seine Zeichnungen. Der Münchner Galerist Gunzenhauser ließ nach der Jahrtausendwende eine ehemalige Sparkassendirektion zum Sammlungsort umbauen und brachte 2500 Werke nach Chemnitz, von Otto Dix, Ernst Ludwig Kirchner, Paula Modersohn-Becker und anderen.

Kunst der wuchtigen Art steht im öffentlichen Raum, Straße der Nationen, Ecke Brückenstraße: Die Büste des Philosophen Karl Marx, geschaffen vom russischen Bildhauer Lew Kerbel. Sieben Meter hoch, 40 Tonnen schwer, das größte freistehende Kopfmonument der Welt. Die Sachsen nennen es liebevoll »Nischl«.

Chemnitz hat sich auf dem Fundament der Epoche der Industrie neu erfunden. Wegen seiner großartigen alten Gebäude ist es zum Museumsstandort avanciert. Im Mai 2014 wird das Staatliche Museum für Archäologie eröffnet, auch das Sächsische Denkmalamt wird dort einziehen, was man in Dresden gar nicht gern sieht. Standort ist das ehemalige Kaufhaus Schocken an der Brückenstraße, ein Bau von Erich Mendelsohn, eine Ikone der klassischen Moderne. Dort wird in den mittig geöffneten drei Stockwerken eine virtuelle Erlebnisausstellung über die Entwicklung Sachsens von der Zeit erster Jäger und Sammler bis zur Industrialisierung in Szene gesetzt. 280 000 Jahre Menschheitsgeschichte, das gibt es so nirgendwo in Deutschland. In einem abgetrennten Bereich wird Mendelsohns kühnster Bau erläutert, die Dauerausstellung zu seinem Wirken ist die erste überhaupt.

Geschildert wird auch die Geschichte von Kaufhausgründer Salman Schocken, der 20 moderne Warenhäuser bis nach Bremerhaven, Stuttgart und Bayern brachte. Damals ein neues Konzept. Als Geschäftsmann mit ausgeprägtem Kunstsinn und Engagement für die Selbstbehauptung der Juden in Europa war er einer der erfolgreichsten Unternehmer der Weimarer Republik. Im Schocken Verlag erschien die erste Gesamtausgabe der Werke von Franz Kafka, auch mit Martin Buber, Einstein und anderen stand Schocken in Verbindung. Nach seiner Emigration nach Palästina 1934 übernahm er die Tageszeitung »Haaretz«, heute das führende Blatt Israels und immer noch im Besitz der Familie.

Chemnitz, lange ein Aschenputtel zwischen Dresden und Leipzig, ist heute eine spröde Schöne. Sie ist kein Gesamtkunstwerk wie die beiden anderen sächsischen Großstädte, aber mit ihren Hinterlassenschaften der Industriekultur einmalig.

Infos

  • www.chemnitz-tourismus.de
  • Neben der Führung »Auf den Spuren der Chemnitzer Industriearchitektur« werden auch Führungen zur Automobilindustrie und durch die Innenstadt geboten.
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