Die Steineklopferin. Ping, Ping

Die große Schauspielerin Inge Keller wird am Sonntag 90 Jahre alt - ein Leben für die Kunst

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Wer Schauspiel betreibt, übertritt ein religiösen Urgebot: Du sollst dir kein Bildnis machen! Theater lebt vom Bildnis! Und just der Narr ist Gott. Die Schöpfung als Stunde der Gaukler. Das beinah Mörderische am luftigen Beruf der lustigen Person: Theater, obwohl ein Ort begehrten Rollenwechsels, stellt in Wirklichkeit bloß. Draußen ist es leicht, sich zu verstellen, auf der Bühne schwer. Im Leben wurde es längst zur Hauptaufgabe, nur ja nicht erkennbar zu sein - auf den mythisch umraunten Brettern aber wird des Menschen Wesen manifest, ob er will oder nicht.

Schauspielerei, so Max Reinhardt, bedeutet Enthüllung des uns Eingeborenen. Wenn er wirklich gut ist, kommt der Schauspieler nie in einer anderen Haut an. Er steigt in ein Kostüm und ist nackt. Er schlüpft in eine Maske und wird sichtbar. Schauspieler sind die verwundbarsten Kinder der Kunst: Sie sind Ausgesetzte, sie wissen nicht, was ihre Wirkung ausmacht, sie sehen nicht, was sie schaffen, sie sind Musiker und Instrument zugleich, im heißen Scheinwerferlicht platzt ihre Seele auf, diese Wunden sind ihr Glück. Denn es ist unser Glück: Die Wunden erscheinen uns Zuschauenden als Wunder. Dann, wenn uns die Ahnung von etwas wirklich Einmaligem streift.

Inge Keller. - Sie ist Ehrenmitglied des Deutschen Theaters Berlin. Zwei Sätze sind es, mit denen sie sich selbst gern erklärt. »Wolfgang Langhoff hat mich auf den Iphigenie-Thron gehievt - und oben sitzengelassen.« Dies ist der eine Satz. Der andere: »Wenn das Telefon klingelte, habe ich jahrelang gesagt: Hier spricht die diensthabende Gräfin der Deutschen Demokratischen Republik.« In beiden Äußerungen stecken offensive Selbstironie und zugleich unverhohlene Bitterkeit - gemildert längst von einem Alter, das um die Unabänderlichkeit der Klischees weiß, denen man ausgesetzt bleibt.

Die Berlinerin stammt aus äußerst gutem Hause in Friedenau, ein Leben »auf der höheren Seite des Aufwandes« - welch wunderbare Formulierung für eine soziale Herkunft! Sie ist die Tochter eines Fabrikanten, die mit braunem Mercedes zur Schule gefahren wurde. Sie ist in ihrer Arbeit, wie die meisten Künstler, tief egozentrisch, und sie ist in ihrer Arbeit, wie die wenigen ganz großen Künstler, noch tiefer selbstkritisch. Sie ist nicht der Mensch, es sich leicht zu machen. Wie es ihr Malerfreund Otto Niemeyer-Holstein vorlebte: Arbeit bedeute in der Kunst, Steine zu klopfen. »Ping, ping.« Bis Wesenszüge ins Licht gerissen sind.

Formwille hob sie stets heraus, machte sie aber auch, vor allem in den siebziger Jahren, zur Einsamen: Wo eines Tages nur noch improvisiert, unterspielt und ironisiert wurde, musste hohl und leer erscheinen, wer wie sie einen Text durch Unterwerfung bewältigte, nicht durch Forschheit. Die Kenner-und-Könnertradition geriet plötzlich in Misskredit. Aber solche Tradition geht nicht verloren. Und aus dieser Lage erwuchs Kellers Merkmal, störrisch unzeitgemäß zu bleiben. Zwischen Erschrockenheit und Ergebenheit lebt sie die fordernde Partnerschaft mit jenem Dämon, der die schauspielerische Energie anfacht, steuert, wach hält. Der alles in Leben herum auffrisst. Der keine Rücksichten nimmt, was außerhalb dessen sich regt. Das Leben dieser Schauspielerin erzählt auch von den Versagungen, wenn man meisterlich sein will.

Im Juli 1992 notierte sie in ihrem Merkbuch: »Den Deutschen ist nicht zu helfen. Sie bestehen jede Anpassung. Ich selbst bin Teil davon.« Als die Beratungen über die Vernichtung der Juden stattfanden, in der Wannsee-Villa - da segelte sie mit Freunden. An der Privatschule, in die sie ging, lernten auch viele reiche Juden. »Ich erinnere mich an wunderbare Laubhütten- und Mazzefeste. Dann die zugezogenen Vorhänge an den Balkonen der Juden - die sehe ich noch, aber ich höre mich nichts fragen. Ich habe also selber genau das durchgemacht, was man immer nicht glauben will: den Dämmerzustand zwischen Wissen und Nichtwissen und Nichtwissenwollen.«

Lange Zeit war sie die naive, dann hohe, stolze Bürgerin der Bühne; mehr und mehr aber erfolgte eine Öffnung ins Ironische, ins herrisch und verwegen Skurrile sogar, schließlich ins Brüchige, Gebeugte - das trotzdem von unangreifbarer Würde umschmolzen blieb. Sie hat bei Wolfgang Langhoff die Iphigenie gespielt, sie war über ein Dutzend Jahre (!) bei Thomas Langhoff die Frau Alving in Ibsens »Gespenstern« und später Dürrenmatts Alte Dame; sie gab eine grandiose Julie in Alexander Langs »Dantons Tod«, sie wirkte mit in Einar Schleefs letzter Inszenierung »Verratenes Volk«, sie spielte am Berliner Ensemble bei Robert Wilson, der den Satz sagte: »Nur Jessie Norman kann so singen, wie Inge Keller spricht.«

Eine Künstlerin, die in vielen Jahrzehnten so etwas wie eine Verbindungsgestalt wurde zwischen so vielen Phasen und Generationen und Konfliktlinien des Deutschen Theaters. »Die Welt braucht das Extravagante!« schrieb Jutta Hoffmann, das herztreffende Lämmchen in Falladas »Kleiner Mann, was nun!«, und die Keller warf als Mia Pinneberg so unvergesslich bezaubernd um sich, mit grandios unverschämtem, ordinärem Gossenadel. Eine der großen Literaturfilme des DDR-Fernsehens, Regie: Hans-Joachim Kasprzik.

Wenn die Keller liest, Stefan Zweig oder Kleist oder Thomas Mann, leiht sie Dichtern nicht ihre Stimme, sie gibt ihren Atem hin. Sprache ist der Berg Arbeit. Hinaufkommen ohne Selbstüberhebung. Wieder herunterkommen ohne Herablassung. Sie kann mit einer einzigen Bewegung ihrer Mundwinkel jedes Pathos unterlaufen, und mit einem einzigen Heben des Kopfes taucht sie ein ganzes Theater in die Stille höchster Erwartung hinein. Sie erzählt ein Märchen, um im nächsten Moment in den Thriller zu wechseln. Sie ist gleichsam vom Bild der Kathedrale inspiriert, nicht von der Poetik der Ruine.

In Heiner Müllers »Auftrag«, inszeniert von Ulrich Mühe, ging sie nur ein einziges Mal über die Bühne, als altgewordene Erste Liebe eines aus dem revolutionären Frankreich heimgekehrten Sklavenhaltersohns. Jeder ihrer Sätze eine Guillotine. Gespenstisch. Augen wie Aschegruben. Eine strahlende giftige Spinne, die da, schleppend melodiös, ihr Netz aus harten Wortbildern strickte. In einer Sprache von unverschämt höhnischer Zutraulichkeit. Ach, »der kleine Victor hat Revolution gespielt«. Ein Herrscherinnengeist triumphierte. Kälte tastete sich siegreich voran. Kapitalismus eben. Keller eben: Sie legt bloß bis auf die Knochen. Der Text schnitt eine Spur in die Luft.

Philemon und Baucis und Wanderer zugleich war sie in Michael Thalheimers »Faust. Zweiter Teil«. Kein Rollenspiel, statt dessen: Langgedicht. Ertasten eines Grundtons, dem die Monotonie Größe gibt. Ein großer Moment. In dieser Litanei, in diesen Hebungen und Senkungen aus weit schwingender Schwermut und einem sicheren Rhythmusgefühl für kühle Brechungen offenbart sich, was Kunst, Leben erreichen kann: ein immer feiner werdendes Schaudern, ein immer feineres Entsetzen, aber auch ein immer stiller werdendes Verwundertsein. Mehrfach wiederholt sie den Schluss ihres Textes: »Gott vertrauen«. Kindlichkeit und Ironie. Es ist, wenn die Keller spricht, irgendwie immer das letzte Mal, dass Gott vorkommt.

Diese Künstlerin ragt aus dem vergangenen Jahrhundert herüber, steht für den Aufbruch einer Generation behüteter Töchter hin zu selbstbewussten Frauen. In einem Staat, dem dieses Selbstbewusstsein Ausgangspunkt und Auftrag war. Oder irgendwann nur noch schien. Der hohe Auftrag, das Ideal, hat sich erledigt? Nein, sagt Inge Keller, »nichts ist erledigt«, und schaut wohl himmelwärts zu Langhoff und Wolfgang Heinz und Ernst Busch, und die Kusshände fliegen. Sie hat nie auf Barrikaden gepasst, sie war nie in einer Partei, sie hatte einen DDR-Reisepass, sie lebt in der Kunst, für die Kunst - aber sie lässt sich nicht belügen über eine Gesellschaft, die ihren Zustand als den besten feiern will. Sie gehört zu denen, die spielen jeden Abend wie um ihr Leben. Spielen, um aus der Rolle zu fallen. Nicht, um aus der Welt zu fallen. Wenn sie Lust auf Fragen hat, fragt sie am liebsten mit Volker Braun: »Wann sag ich wieder mein und meine alle.« Und wenn der Pegelstand der Traurigkeiten steigt, nimmt sie Hoffnung von E. M. Cioran: »Wir sind am Grund einer Hölle, von der aber jeder Augenblick ein Wunder ist.«

Am morgigen Sonntag wird die große deutsche Schauspielkünstlerin Inge Keller 90 Jahre alt.

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