Mehr Obdachlose, weniger Mitgefühl

Der Sozialpsychologe Andreas Zick erforscht Vorurteile gegenüber Wohnungslosen

  • Boris Nowack
  • Lesedauer: 4 Min.
Unnütz und hilfebedürftig - in der Wahrnehmung eines großen Teils der Öffentlichkeit sind Obdachlose außer mit ihrer Not auch mit Vorbehalten konfrontiert. Umso mehr, je besser gestellt der Urteilende ist.

Seit dem Jahr 2009 verzeichnen die Sozialverbände wieder stetig steigende Zahlen der Wohnungs- und Obdachlosen in Deutschland. Derzeit haben rund 284 000 Menschen keine dauerhafte Unterkunft. Davon sind etwa 24 000 ohne jegliches Dach über dem Kopf, die sogenannten Straßenobdachlosen, die nicht in Notunterkünften schlafen, sondern in den Vorräumen von Bankschaltern, Hauseingängen oder einfach im Freien.

Sie sind besonders den Anfeindungen und Vorurteilen der übrigen Bevölkerung ausgesetzt. »Obdachlose werden als unnütz wahrgenommen, weil sie Hilfe brauchen und dann auch noch Ansprüche stellen«, sagt Professor Andreas Zick, Direktor des Instituts für interdisziplinäre Gewalt- und Konfliktforschung (IKG) der Universität Bielefeld. Er forscht unter anderem zu den Einstellungen der Deutschen gegenüber Obdachlosen und hat in den letzten drei Jahren das Aufkommen einer neuen Menschenfeindlichkeit feststellen müssen. Schuldzuschreibungen sind der Normalfall, Ursachen vermeintlich schnell gefunden: Unfähigkeit, Alkohol, Leistungsschwäche. »Das erklärt jedoch nicht die biografischen Ursachen«, stellt Zick klar. »Außerdem drängen diese Vorurteile nach Abwertung und Ungleichheit, nicht nach Verständnis und Hilfe.«

Dabei kann es jeden treffen. Der eben noch gut verdienende, erfolgreiche Manager oder Unternehmer wird etwa durch einen schweren Schicksalsschlag aus der Bahn geworfen. Erst dann beginnt ein Teufelskreis aus Alkohol und Depression, der zum Verlust von Arbeitsplatz und schließlich dem Dach über dem Kopf führen kann. Ohne professionelle Hilfe gelingt nur wenigen der Weg zurück in die Normalität. Gerade in konservativen Kreisen jedoch fehlt das Verständnis für diese Zusammenhänge: »Wer Menschen danach beurteilt, was sie leisten, ist besonders anfällig für Vorurteile«, weiß Zick. So ist es folgerichtig und paradox zugleich, dass unter besonders Gutsituierten die Hilfsbereitschaft besonders unterentwickelt und die Vorbehalte besonders ausgeprägt sind. »Die Einkommensstarken ziehen laut unseren Umfragen ihre Solidarität zurück, während unter den armen Menschen eine ungebrochene Solidarität herrscht.«

Die Weihnachtszeit ist für Obdachlose die härteste Zeit des Jahres. Zwar spenden die Deutschen gerne, doch vor allem ins Ausland. »Je weiter weg die Not ist, desto mehr wird gespendet«, sagt Zick. Es geht ihm dabei jedoch nicht nur um ökonomische Spenden, sondern um die Frage, wie man die Zeit überlebt, die viele Betroffene auch an die Grenzen ihrer psychischen Belastbarkeit bringt. Um Weihnachten werden sie besonders deutlich daran erinnert, dass sie gerade nicht zu den normalen, glücklichen Menschen gehören.

Für den Forscher ist es deshalb an der Zeit, das Verständnis für Armut und Obdachlosigkeit in der Bevölkerung zu erweitern. Dazu gehört auch die bloße Akzeptanz. »In Zukunft wird uns diese Thematik automatisch beschäftigen, denn wir haben eine Altersarmut zu erwarten, die sich gewaschen hat«, sagt Zick voraus. Er bringt deshalb Obdachlose und Nichtobdachlose zusammen und schafft so Nähe und Beziehung, ganz nach der Kontakthypothese des US-amerikanischen Psychologen Gordon Allport. »Nur wer authentische Geschichten hört und Fragen stellt, kann seine Vorurteile abbauen«, erklärt Zick. Universitäten und Stiftungen eignen sich deshalb besonders gut für derartige Treffen der unterschiedlichen Gruppen, weil dort auch die höher gebildeten Schichten anzutreffen sind.

Freilich gehört dazu auch der Wille, tatsächlich etwas zu ändern. Städte, Ämter und Entscheidungsträger kann man am besten mit ökonomischen Argumenten überzeugen. »Viele Obdachlose nehmen Hilfe und Therapien nicht in Anspruch. Je länger das jedoch der Fall ist, desto größer sind später der Schaden und die damit verbundenen Kosten«, warnt Zick. Ämter müssen besser geschult, Obdachlose aufgesucht und Therapien angeboten werden.

Von der neuen Regierung mit der SPD an Bord erhofft sich Andreas Zick, dass wieder über das Thema Solidarität nachgedacht und der Fokus stärker auf Sozial- statt Sicherheitspolitik gelegt wird: »In der letzten Regierung gab es ja abenteuerliche Vorstellungen, was man alles mit Arbeitslosen machen kann.«

www.uni-bielefeld.de/ikg/zick/

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