Das siebte Kind

Rabbinersöhne gegen Hitler. Die Odyssee des Theodor Bergmann und seiner Brüder

Berlin, 7. März 1933, sieben Uhr: Bereits in früher Morgenstunde herrscht auf dem Anhalter Bahnhof emsige Betriebsamkeit. Eisenbahner koppeln Waggons ab, Gepäckwagen werden entladen, Menschen hasten hin- und her. »Vorsicht an der Bahnsteigkante«, tönt es aus dem Lautsprecher. Wieder rollt ein Zug in den Kopfbahnhof ein, den die Berliner nur »Anhalter« nennen. Er verbindet die Hauptstadt mit den Metropolen der Welt: Wien Budapest, Rom, Athen ... Am »Tor des Südens« starten Afrikareisende nach Triest und Neapel, von wo es per Schiff nach Alexandria, Kairo und Khartum weitergeht.

Ein Junge steht mit seiner Mutter am Gleis. Er hat nur leichtes Gepäck. Der Junge versichert, auf sich aufzupassen. Und die Mutter: »Sobald wir können, kommen wir nach.« Umarmung, Kuss. Der Junge steigt ein. Schon ertönt das Abfahrtssignal. Der Junge winkt der Mutter aus dem Fenster - bis er sie nicht mehr sieht.

Von dem trutzigen Terrakottabau steht heute nur noch die Ruine des Portals. Seit 2008 erinnerte eine Stele an die Judendeportationen, die ab Juni 1942 auch vom Anhalter Bahnhof gen Osten abgingen.

Am Freitag, den 2. März 1933, hat Theo sein Abitur in der Tasche. Am Folgetag stirbt die Großmutter. Am Sonnabend wird ihre Leiche zum jüdischen Friedhof in Weißensee gebracht, während in Berlin Braunhemden Hitler bejubeln. Am Sonntag, den 5. März, wird reichsweit gewählt. Theo darf noch nicht, denn laut Gesetz ist er nicht volljährig. Seine älteren Brüder wählen die Sozialdemokraten und Kommunisten. Am Dienstag, den 7., früh um fünf, wummert es an der schweren Eichentür der Bergmanns in der Uhlandstraße in Charlottenburg. SA-Männer fordern laut Einlass. Theos Mutter antwortet geistesgegenwärtig: »Wir haben heute Beerdigung. Kommen Sie doch bitte morgen wieder.« Tatsächlich marschiert die SA ab. Für die Eltern steht fest: »Theo muss raus. Sofort.« Er ist ihr jüngster, sechster Sohn; Theo hat noch eine ältere und eine jüngere Schwester. Schweren Herzens begleitet Hedwig Bergmann den Sohn an dessen 17. Geburtstag zum Bahnhof. »Widerspruch hätte keinen Sinn gehabt, meine Mutter war eine resolute Frau«, sagt der Veteran. Und ergänzt: »Niemand wollte weggehen. Und viele haben geglaubt, dass Hitler nicht lange Kanzler bleibt.«

Mit elf Jahren ist Theo dem Jungspartakusbund und dem Sozialistischen Schülerbund beigetreten. Er schweigt nicht, als der Lehrer vor der Klasse verkündet: »Die Juden sind schuld daran, dass wir den Krieg verloren haben.« Der Sohn von Julius Bergmann, Rabbiner an der Synagoge in der Fasanenstraße, widerspricht: »Das stimmt nicht, Herr Lehrer!« Und er gibt wieder, was er von seinen Brüdern über den Krieg und die verratene Revolution erfuhr.

Kurz vor Vollendung seines 13. Lebensjahres wird er vom Mommsen-Gymnasium hinterm KaDeWe, dem Kaufhaus des Westens, verwiesen. Nicht nur, weil er dem Lehrer ins Wort gefallen ist. Mit seinem Bruder Josef hat er zu einer Schülerdemonstration aufgerufen, die es in die Schlagzeilen aller Berliner Zeitungen brachte. »Mein Bruder Arthur, der schon berufstätig war, ein aktiver linker Sozialdemokrat, half mir und Josef, eine neue Schule zu finden. Er kannte den Rektor des Köllnischen Gymnasiums, an dem Arbeiterkinder in kürzerer Frist das Gleiche lernten wie Gymnasiasten. So konnte ich noch 1933 das Abitur machen.« Buchstäblich in letzter Minute. Bald wird Judenkindern auch das Reifezeugnis verwehrt. An der Schule von Siegfried Kawerau gibt es keine hirnlose Paukerei. »Wir mussten nicht die Daten von Dynastien und Kriegen auswendig lernen, diskutierten stattdessen politische Ereignisse.« Theos Mitschüler sind älter und auch links. »Es gab aber einen Nazi in meiner Klasse«, erinnert sich Theodor Bergmann. »Ende 1931 kam er in SA-Uniform in die Schule. Da erhielt er von uns eine tüchtige Tracht Prügel. Wir schickten ihn nach Hause, zum Kleiderwechsel.« Nach dem »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« werden alle linken Lehrer und Juden entlassen und durch stramme Nazis ersetzt. Schulreformer Kawerau wird verhaftet, schwer gefoltert und stirbt drei Jahre später an den Folgen.

In Saarbrücken verlässt Theo den Zug, um auf einen Mann warten, der ihm ein wichtiges Papier bringt. Der kommt rechtzeitig. Theo verpasst den Zug nach Marseille nicht. In der Tasche das wohl wertvollste Geburtstagsgeschenk, das er je erhielt und erhalten wird - das britische Zertifikat für die Einreise nach Palästina. In der südfranzösischen Hafenstadt besteigt Theo den Dampfer »Champollion«, der bereits überfüllt ist. »Ein buntes Völkchen, Arme und Reiche, erkennbar an Kleidern und der Anzahl der Koffer, aber dennoch irgendwie zusammengehörig.« Theo beneidet die Familien. Er ist allein. »Und ich wusste nicht, was mich erwartet. Ich kannte Palästina nur aus den Erzählungen meines Vaters, der noch nie dort war, aber viele kluge Bücher geschrieben hat. Er war ein Zionist, aber kein konservativer.«

Vor Jaffa wird Anker geworfen. Etwa hundertfünfzig Meter trennt die Flüchtlinge vom Gelobten Land. Die Matrosen lassen Hängeleiter an der Bordwand hinunter. Unten warten kleine Booten. Zügig rudern Araber die Juden an die Küste. Dort heißt es warten. Die Briten sind sehr korrekt, studieren akribisch die Papiere der Neuankömmlinge. »Ihre Einwanderungspolitik war sehr rigide.« Der Berliner Junge sucht in Tel Aviv entfernte Verwandte auf. »Die Stadt sah ganz anders aus als heute. Für einen, der aus Deutschland kam, wirkte alles sehr bescheiden, ärmlich.«

Nächste Station seiner Odyssee ist der Kibbuz Geva. Hier baut er das erste Haus mit auf. »Für Kinder. Für die zukünftige Generation musste als erstes gesorgt sein.« Alle Kibbuznik sind gleichgestellt. Der schmächtige Bergmann-Sohn muss mit einer Spitzhacke aus umliegenden Felsen Basalt brechen. Er beklagt sich nicht. Allein die Einsamkeit, getrennt von Eltern und Geschwistern, bedrückt das Herz. Es jauchzt auf, als ein Brief von Felix eintrifft. Sein drittältester Bruder, Medizinabsolvent der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin, ist in Rehovot gestrandet. Theo macht sich erneut auf den Weg. In Rehovot hilft er bei der Bewässerung von Zitruspflanzen. Bis 1934 die Brüder Nachricht von Vater und Mutter erreicht - aus Tel Aviv.

Für Theo gibt es kein Halten mehr. Er reist zurück. Das Wiedersehen wird ausgiebig gefeiert. Die Mutter klärt auf: »Vater hat beschlossen, es sei an der Zeit, dass auch wir gehen. « Eine feste Bleibe wird gesucht und gefunden. »Mutter managte alles.« Wenig später kommt Bruder Ernst nach Tel Aviv. Der Chemiker, der in seiner Zunft bereits einen Ruf genoss, folgte dem Ruf von Chaim Weizmann. Er assistiert dem späteren ersten Präsidenten Israels beim Aufbau seines wissenschaftliches Instituts in Lehovot. Später ist Theos ältester Bruder an Israels Atomprogramm beteilt. »Denn er war der Meinung: Nie wieder sollen Juden schutzlos sein, sich nicht verteidigen können«, sagt Theodor Bergmann und erzählt, wie er selbst mit Spaten und Schaufel Weizmanns Institut errichten half. »Da bin ich ihm einmal persönlich begegnet. Mein Bruder stellte uns vor.«

Theo ist nicht mehr einsam, aber auch nicht glücklich. »Mich zog es wieder nach Europa. Zu meinen Genossen. Wir hofften damals ja noch, dass Hitler vom deutschen Volk gestürzt wird. Und da wollte ich dabei sein.« Beim Abschied segnet der Vater den Sohn, für den alle Religion Opium für das Volk ist. Theo ist Kommunist. Seit seiner Gymnasiastenzeit. Seinen älteren Brüdern Alfred und Joseph folgend, trat er der Kommunistischen Partei bei - jener mit dem Zusatz »Opposition«, gegründet 1928 von August Thalheimer und Heinrich Brandler. Beide lernte Theo im bescheidenen Domizil der Reichsleitung der KPD (O) und der Redaktion der Zeitschrift »Gegen den Strom« in der Wilhelmstraße im Herzen Berlins kennen. »Im großen Eingangsbereich stand ein langer Arbeitstisch, an dem Rundschreiben vervielfältigt und verpackt wurden. Ich half nach der Schule aus. Wenn ich eine Frage hatte, konnte ich zu August gehen. Er hörte mir stets geduldig zu.« Theo schaute dem Chefredakteur auch beim Verfassen seiner Leitartikel über die Schultern. »Seine Faschismusanalysen waren brillant. Während die KPD noch die Sozialfaschismusthese wiederkäute und die Sozialdemokraten die Kommunisten ›rot lackierte Faschisten‹ nannten, forderte er die Einheit der Arbeiter gegen Hitler.« Thalheimer und Brandler emigrieren später nach Paris, von dort nach Kuba.

In ihrem Sinne leistet Theo ab 1935 in der Tschechoslowakei antifaschistische Arbeit. Der nunmehrige Student an der Landwirtschaftlichen Fakultät der Deutschen Technischen Hochschule in Tetschen, 120 Kilometer von Prag entfernt, sammelt Informationen aus dem »Reich« und fertigt Flugblätter an, die zurück über die Grenze geschmuggelt werden. Ähnlich aktiv ist sein Bruder Alfred in der Schweiz, der in Basel sein 1933 zwangsabgebrochenes Medizinstudium beendet hat. Theodor Bergmann blickt zurück: »Die SA war am 8. März ›33 wieder gekommen, hat Alfred in unserer Wohnung verhaftet und ins KZ Esterwegen verschleppt. Es gelang, ihn Ende des Jahres da rauszuholen.« Alfred Bergmann organisiert die Grenzarbeit der KPD (O). Die Gestapo kommt ihm auf die Schliche. Am 20. April 1940 wird er von der angeblich neutralen Schweiz ausgeliefert. »Er wurde nach Berlin gebracht und sofort ermordet. Ja, so war das. Das ging damals ganz schnell.« Theodor Bergmann hält inne. Die Gefühle übermannen ihn. An den Arzt Alfred Bergmann erinnert in Berlin-Charlottenburg ein Stolperstein. Anderen, in Theresienstadt und Auschwitz umgebrachten Angehörigen der weit verzweigten Familie Bergmann wird in Yad Vashem gedacht.

1938 muss Theo erneut seinen Rucksack packen. In München haben die Westmächte Hitler die CSR ausgeliefert. Als die Wehrmacht in Prag einrollt, ist Theo in Schweden, arbeitet bei einem Bauern, unweit von Stockholm. »Einmal kam der Nachbar zu meinem Arbeitgeber, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: ›Joel, deine Kühe waren noch nie so sauber wie jetzt bei dem Deutschen.‹« An Wochenenden trifft sich Theo mit Bruder Josef, der über Paris nach Stockholm emigrierte und in der Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Schweden aktiv ist. Mit ihm gibt Theo »Politische Briefe« heraus, in denen die beiden ihre Ideen über ein sozialistisch-demokratisches Nachkriegsdeutschland artikulieren.

Josef und Theo sind die einzigen der acht Bergmann-Kinder, die in die alte Heimat zurückkehren. Während Josef in Hamburg sesshaft wird, verschlägt es Theo ins »Ländle«, nach Baden-Württemberg; er wird Professor für vergleichende Agrarpolitik an der Universität Hohenheim. Sein Versuch, mit Josef und Freunden die KPD(O) mit der Gruppe Arbeiterpolitik wiederzubeleben, scheitert in der restaurativen Bundesrepublik. Doch aus Niederlagen gewinnt man neuer Kraft. »Wir Linken müssen zusammenhalten, west- und ostdeutsche Erfahrungen zusammenbringen - gegen die taktische Einheitsfront von CDU und SPD. Wir müssen aus den Erfahrungen der kommunistischen Bewegung lernen, den guten und den schlechten.« Sagt das Mitglied der Linkspartei, das im Dezember zur Einweihung der Gedenktafel für Stalins kommunistische Opfer am Karl-Liebknecht-Haus sprach.

Auch mit bald 98 Jahren ist er publizistisch aktiv. Und immer unterwegs. Wenn Sie, werte Leser, bei einer Demo gegen Sozialabbau oder Neonazis einem älteren Herrn mit Jägerhütchen und Rucksack begegnen, sprechen sie ihn an. Es könnte Theodor Bergmann sein. Der Jahrhundertzeuge gibt gern Auskunft über sein Leben. Noch lieber diskutiert er über gesellschaftliche Alternativen.

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