Mehr als nichts und weniger als gut

Mit der fahrenden Ambulanz und Dr. Birgit Timm unterwegs auf der philippinischen Insel Leyte

  • Esther Goldberg, Tacloban
  • Lesedauer: 7 Min.
»Reisende sind herzlich willkommen.« Die metallig-silbrige Schrift an einer Hotelfassade in Tacloban wirkt nach dem Taifun »Haiyan« nur noch traurig.

Das einstige touristische Zentrum Tacloban ist nicht mehr. Selbst ein ganz einfaches Leben in dieser philippinischen Stadt wird es auf Jahre hinaus nicht geben. Nicht geben können. Bis heute wachsen rechts und links der Hauptstraße die Müllberge. Abgerissene Dächer aus Wellblech taugen als eine Art Barriere, damit der Müll nicht auf die Straße fließt. Denn es regnet ununterbrochen.

Im Müll befinden sich Hausrat, Kleidung, Spielzeug, Fernseher und möglicherweise Tote. Das kann niemand so genau sagen. Trotz aller Versuche, die Opfer zu bergen. Es gibt schwere Räumgeräte, die Schrott beiseite schieben. Es gibt Arbeiter, die neue Strommasten setzen. Die alten Masten liegen abgeknickt dicht an dicht an der Straße. Beim Sturz haben sie die Stromleitungen mit auf den Boden gerissen. Das E-Werk ist komplett zerstört. Wann es wieder Strom produziert, weiß niemand.

»German doctors« für Krisengebiete

• »German doctors« ist eine deutsche Hilfsorganisation mit Sitz in Bonn. Sie wurde vor 30 Jahren als »Ärzte für die Dritte Welt« gegründet.

• Die Hilfsorganisation entsendet deutsche Ärzte in Krisengebiete in Bangladesch, Indien, Kenia, Nicaragua, Sierra Leone und auf den Philippinen.

• Die Ärzte arbeiten in den Notteams kostenlos und zahlen die Hälfte der Flugkosten selbst.

• Seit Bestehen der Organisation waren 2850 Ärzte und Ärztinnen im Einsatz, viele von ihnen mehrmals.

• Insgesamt gab es bei den 6100 Einsätzen geschätzt zwölf Millionen kostenlose Behandlungen für die Ärmsten der Armen.

• Seit Ende vergangenen Jahres engagieren sich die »German doctors« zusätzlich auf der philippinischen Insel Leyte, um den »Haiyan«-Opfern zu helfen. Es werden regelmäßig 2500 Nahrungsmittelpakete an Familien verteilt. Nach wie vor sind 2,5 Millionen Menschen auf Lebensmittelhilfe angewiesen.

• Fünf Krankenschwestern werden in ein Krankenhaus an die Westküste Leytes entsandt.

• Für den Wiederaufbau Leytes gibt es eine gute Zusammenarbeit mit der einheimischen Organisation »Green Mindanao«. Gemeinsam werden kleine Häuser gebaut und Wassersysteme repariert. Für den Hausbau werden Naturmaterialien verwendet, für die Dächer geflochtene Palmwedel.

• Die Organisation finanziert sich aus Spendengeldern und hat das Spendensiegel.

• Kuratoriumsvorsitzende ist die Schauspielerin und Ärztin Dr. Maria Furtwängler.

E.G.

 

Die Stadt auf der philippinischen Insel Leyte ist zerborsten. Am frühen Morgen des 8. November 2013 durchtobte der Taifun mit reichlich 300 Kilometern pro Stunde nahezu alle Steinhäuser und riss mit sich ins Meer, was ihm im Wege war: Dächer und Strommasten und Kokospalmen und Betonwände und Menschen - 5000 starben allein während dieser vier Stunden.

Einige Kilometer vor der Stadt, direkt am Meer, ist alles aufgeräumt, scheint es. Doch das stimmt nicht. Hier haben fünf Meter hohe Wellen Holzhäuser, Pflanzen, Bäume, Mensch und Tier einfach in den Pazifik gezerrt. »Das war ein Tsunami«, erzählt Nelson Diango. Er ist der Fahrer der Rolling Clinic, der fahrenden Ambulanz der deutschen Hilfsorganisation »German doctors«.

Gemeinsam mit den beiden philippinischen Krankenschwestern Jocelyne Walo und Nancy Reyes sowie der deutschen Ärztin Dr. Birgit Timm ist Nelson Diango im Katastrophengebiet unterwegs, um Menschen medizinische Hilfe zu bringen. Jedes Mal, wenn er an jener Kirche vorbeifährt, die vor dem Eingang einen Friedhof hat, bekreuzigt er sich. Hier liegen Hunderte Taifunopfer. Es ist das erste Mal in der Geschichte der Philippinen, dass es vor einer katholischen Kirche einen Friedhof gibt.

Das Team der Rolling Clinic ist zehn Tage lang ununterbrochen unterwegs in weit abgelegenen Dörfern auf Leyte, rund 30 Kilometer vor Tacloban. Normale Straßen dorthin gibt es nicht. Wenn das Team Glück hat, liegen auf dem Waldweg einige Steine. So kommt der Allrad-Jeep trotz des ununterbrochenen Regens vorwärts. Auf der Ladefläche Medikamente. Gegen Erkältung und Bluthochdruck und Magenschmerzen, jede Menge Schmerzmittel, Verbandszeug und Vitaminpillen.

Die Helfer kommen nach Caabangan. Das ist ein kleines Dorf inmitten eines einstiges Palmenwaldes. Jetzt liegen hier nur noch umgestürzte Bäume, stehen nur noch einige abgebrochene Palmen ohne Krone. Die Schule ist nur wenig beschädigt, das Dach verbogen. Hier hatte Dorfvorsteher Jeson Alor seine 268 Mitbürger während des 8. November versammelt. Eng aneinander gedrängt, harrten sie Stunden aus, bis Taifun Haiyan abgezogen war. »Wir haben überlebt«, sagt er. 64 der 70 Häuser wurden zerstört. Aus der Luft hat die deutsche Hilfsorganisation »Plan« Seile und Abdeckplanen abgeworfen. So können sie sich vor dem Regen schützen.

Seit einer Woche weiß Jeson Alor, dass die »German doctors« kommen. Er hat die kleine Dorfhalle so hergerichtet, dass sie auf Plastikstühlen sitzen können. Blutdruck wird gemessen und Fieber, nach den Beschwerden gefragt. Nebenan sitzt die 57-jährige Birgit Timm mit ihrer Übersetzerin. Das Übersetzen von Tagalog ins Englische ist jedoch nur ein Teil der Arbeit von Jocelyne Walo. Sie muss zugleich interpretieren. Feinfühlig genug, so dass die Patienten es nicht bemerken.

Zum Beispiel die 13-jährige Catherin Malaws hat Fieber, Husten und eine Hautkrankheit. Birgit Timm weiß, es ist Krätze. Die Krankheit der Armut und des Schmutzes. Die Ärztin will, dass die Geschwister und Eltern des Mädchens zu ihr kommen. Nur wenn die Familie ohne Ausnahme behandelt wird, ist tatsächlich das Kraut gegen die Krätze gewachsen. Jocelyne Walo lächelt das Mädchen an und lädt alle Familienmitglieder in die Apotheke ein. Ja, so könnte es klappen mit dem Verstehen.

Maricel Mercado ist 46 Jahre alt. Sie ist gekommen, weil ihr der Magen weh tut. Husten hat sie auch. Birgit Timm will sie abhören. Die Frau hat ein breites Band um den Bauch. So wird ihr regelrecht die Luft abgedrückt. »Sie bekommen besser Luft, wenn Sie das Band lösen«, schlägt die Ärztin vor. Doch das wird nicht gehen. Das Band schützt vor bösen Geistern und hat auch während des Taifuns geholfen. Soll die Ärztin dagegen andiskutieren? Es wäre sinnlos, sie weiß es.

Birgit Timm ist bereits das dritte Mal in dem südostasiatischen Land, um unentgeltlich zu helfen. Also schlägt sie vor, wegen des Schwindels und des niedrigen Blutdrucks das Band immerhin ein wenig zu lockern. »Aber so fühle ich mich besser«, entgegnet die Kranke. »Nein« sagt sie nicht. Das verbietet sich gegenüber der Fremden. Und niemand redet ihr den Aberglauben aus. Die Tabletten werden der Frau Linderung bringen. Das ist mehr als nichts und weniger als gut. Mehr ist nicht drin.

Auf das Prinzip der kleinen Dinge setzt auch Elena Cinco. Sie ist die Lehrerin in diesem Dorf. Lehrerin für die Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren. Sie unterrichtet alle Fächer, die bis dahin gelehrt werden müssen - Mathematik und Lesen, Schreiben und Musik, Heimatkunde. Manchmal spricht sie auch über notwendige Hygiene. Doch allzu weit scheint sie damit nicht gekommen zu sein. Immer noch haben die meisten Kinder, haben die meisten Familien Würmer. Sauberes Wasser gibt es zwar. Aber nur an der Quelle. Bis in die Haushalte ist es noch nicht verlegt. Wird es vorerst auch nicht verlegt werden.

Plötzlich gibt es gewaltiges Gelächter in der Dorfhalle. Clinic-Fahrer Nelson Diango erweist sich als Multitalent. Er gibt den Dorfbewohnern auf heitere Art Unterricht. Das machen sie immer so bei den »German doctors«.

Ein bisschen von Hilfe zur Selbsthilfe soll so zustande kommen. Nelson erzählt von Hygiene und warum das Händewaschen so wichtig ist, dass sauberes Wasser den Kindern Durchfälle erspart. Das erzählt er so, dass alle lachen können. Er fuchtelt mit den Händen in der Luft, deutet seine Wäsche an und zieht Grimassen. Vielleicht bleibt doch etwas hängen davon, was er hier demonstriert.

Birgit Timm bekommt diese Unterrichtsstunde nicht mit. Bei ihr sitzt eine 57 Jahre alte Frau. Sie schimpft mit ihrer Enkelin. Die Ärztin kann das nicht verstehen. Denn das einjährige Kind hat die Krätze und kann noch nicht begreifen, warum es nicht kratzen darf. Verschreckt schaut das untergewichtige Kind die Großmutter an. Die Ärztin sagt zur Großmutter »No«. Jocelyne Waro beschreibt, was in dieser Familie los ist: Die 19 Jahre alte Mutter des Kindes ist einfach gegangen, kommt ganz selten nach Hause. Die Großmutter ist überfordert. Das Kind wird sich dank der Medizin bald nicht mehr kratzen müssen, wenigstens das.

Ein 16-jähriges Mädchen kommt nahezu als Letzte zur deutschen Ärztin. Sie ist besonders schüchtern. In ihrem Gesicht sind zahlreiche blaue Flecke zu sehen. Sofort kommt der Verdacht auf, dass dieses Kind Gewalt erleiden muss. Aber das stimmt nicht. Eine dramatische Ursache haben diese Flecke dennoch. Das Kind ist vor zwei Tagen schlimm gestürzt. Es hat sehr wahrscheinlich Epilepsie. Drei Anfälle im Monat.

Ein Bruder ist bereits gestorben. Birgit Timm ist fassungslos. Daran muss man nicht sterben. Auch nicht auf den Philippinen. Sie überweist das Mädchen zu einem Neurologen, den es irgendwo im zerstörten Tacloban gibt. Doch den Eltern fehlt das Geld für die Fahrt mit einem Motorrad als Taxi und später mit einem Bus. Fünf Euro fehlen - an einem Menschenleben. Gesagt hat das niemand, aber es ist zu spüren. Die von der Rolling Clinic geben das Geld dem Dorfvorsteher. Er wird dafür sorgen, dass die Jugendliche wirklich zur Untersuchung fährt. »Du kannst ein ganz normales Leben haben«, versichert die Ärztin noch einmal. Als das Mädchen sie umarmt, muss sie schlucken.

Die von der Rolling Clinic werden an diesem Tag 120 Kranke behandeln. Nicht nur, dass Husten und Würmer und sogar eine Epilepsie möglicherweise verschwinden werden. Hoffnung kommt mit jedem Hustensaft und jeder Tablette. Die auf Leyte sind nicht vergessen. Ihr »Help us!« auf manchen Dächern rettet sie bis heute. »Diese internationale Hilfe muss noch mindestens drei Monate weitergehen«, sagt Leonita Babio von der philippinischen Hilfsorganisation »Accord«. Denn die Ernte ist komplett zerstört, 70 Prozent der Hühner und Schweine sind tot.

Jetzt sind auf Leyte nicht einfach Reisende willkommen, sondern Helfer. Aus allen Ländern, und in der Not gelingt das Miteinander Deutsches Rotes Kreuz und »Plan« und »German doctors« inmitten all der anderen.

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