Wie die moderne Hirnforschung ein altes philosophisches Problem neu beantwortet
Martin Koch
Lesedauer: 4 Min.
Im Alltag hegen wird nicht den leisesten Zweifel, einen freien Willen zu besitzen. Unser Gefühl sagt uns vielmehr, dass wir in nahezu allen Lebenssituationen immer auch anders handeln könnten, als wir es letztlich tun - sofern wir nur wollten. Jeder Mensch ist mithin für seine Handlungen selbst verantwortlich und kann zur Rechenschaft gezogen werden, wenn er andere Menschen dadurch schädigt.
Dieses traditionelle Bild der Willensfreiheit wird durch die moderne Hirnforschung seit geraumer Zeit in Frage gestellt. Und zwar namentlich durch ein Experiment, welches der amerikanische Neurophysiologe Benjamin Libet 1983 zum ersten Mal durchgeführt hat. Aufgabe der Versuchspersonen war es dabei, nach eigenem Ermessen die rechte Hand zu heben. Zugleich sollten sie mit Hilfe einer speziellen Uhr den Zeitpunkt bestimmen, an dem sie den bewussten Willensruck verspürten, diese Bewegung auszuführen. Ursprünglich wollte Libet mit seinem Experiment die Autonomie des menschlichen Willens nachweisen. Stattdessen stellte er fest: Das hirnphysiologisch messbare Bereitschaftspotenzial, das bei der Vorbereitung einer willentlichen Bewegung entsteht, setzt im Schnitt etwa 350 Millisekunden vor dem bewussten Willensakt ein. Demnach entscheidet das Gehirn, eine Bewegung einzuleiten, noch bevor es irgendein subjektives Bewusstsein von dieser Entscheidung gibt.
Kann man unter diesen Umständen überhaupt noch von der Willensfreiheit des Menschen sprechen? Darüber sowie über andere Fragen der modernen Hirnforschung diskutierten Natur- und Geisteswissenschaftler vor zwei Jahren auf einem Symposium im Nürnberger »turmdersinne«. Veröffentlicht wurden die Beiträge dieser spannenden Debatte jetzt in dem Buch »Freier Wille - frommer Wunsch?«, dessen Resümee kurz gesagt lautet: Die Autonomie des menschlichen Willens ist eine Illusion, wenn auch eine sehr hartnäckige.
Denn nach den Erkenntnissen der Hirnforschung entscheidet nicht das bewusste Ich, was wir in einer bestimmten Situation tun oder lassen. Vielmehr ist das Erleben der Willensfreiheit nur ein kausal unwirksamer Nebeneffekt von unbewussten Gehirnaktivitäten, die tatsächlich unser Verhalten steuern. Oder, wie der Münchner Psychologe Wolfgang Prinz pointiert: »Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, war wir tun.«
Dass viele Menschen dies für eine unzumutbare Vorstellung halten, versteht sich. Doch was wäre die Alternative? Mitunter wird der Versuch unternommen, die Freiheit des Willens mit der Zufälligkeit der Quantenprozesse in Verbindung zu bringen. Nur: Ein Wille, der gleichsam grundlos Handlungen verursacht, ist kein eigener Wille mehr, sondern macht den Menschen zu einer fremdbestimmten Marionette des Zufalls. »Für ein freies verantwortliches Handeln«, schreibt der Physiker Bernulf Kanitscheider, »wird eine starke Kausalstruktur benötigt, und Verantwortung ist nur denkbar, wenn die Welt, in der gehandelt wird, diese Gesetzesstruktur besitzt.«
Diese Aussage trifft natürlich auch auf das Gehirn selbst zu. Will sagen: Als Objekt der empirischen Forschung und mithin aus der Perspektive der 3. Person Plural ist des Menschen Wille nicht frei. Und es ist unmöglich, dass er jeweils anders hätte handeln können, als er tatsächlich gehandelt hat. Aus der Perspektive der 1. Person Singular hingegen nehmen wir unsere Handlungen so wahr, als hätten wir sie bewusst geplant. Kurzum, wir fühlen uns frei, zu tun und zu lassen, was wir wollen.
Die entscheidende Frage nun ist, ob wir diese subjektive Freiheit irgendwann dadurch verlieren, dass die Wissenschaft das Gehirn in allen Details erschöpfend erforscht. Und es somit gestattet, unser Verhalten und Erleben vorherzusagen und eventuell technisch zu manipulieren. Der Berliner Philosoph Holm Tetens hält eine solche Vision für unrealistisch mit der Begründung, dass das menschliche Gehirn ein hochkomplexes und hypersensitives System darstellt. Das heißt: Jeder Versuch, den Zustand des Gehirns exakt zu beschreiben, setzt einen Eingriff in das Gehirn voraus, welcher wiederum dessen Zustand augenblicklich verändert. Wir werden daher nie genau wissen, welche Hirnzustände welches Verhalten auslösen. Die Freiheit, betrachtet aus der Perspektive der 1. Person Singular, bleibt somit gewahrt.
Auf der Grundlage kausaler Hirnvorgänge ein Gefühl von Freiheit zu entwickeln, ist zweifellos eine Meisterleistung der biologischen Evolution. Und eine sinnvolle dazu, wie das Beispiel der Rechtsprechung zeigt. Denn für die moralische Verantwortlichkeit sei es notwendig, bemerkt Kanitscheider, dass ein Täter eben mit einem spezifischen Charakter die Tat vollbringe. Oder anders ausgedrückt: Eine freie Handlung muss kausal mit den Wünschen und Überzeugungen des Handelnden zusammenhängen. So gesehen besteht zwischen der Rechtspraxis und den Ergebnissen der Hirnforschung kein Widerspruch. Im Gegenteil, die Aussicht auf eine Gefängnisstrafe beispielsweise dürfte so manchen potenziellen Täter veranlassen, auf eine geplante Tat zu verzichten. Dieser Verzicht ist aber nur möglich, wenn in der Welt ein durchgehender Kausalzusammenhang besteht. Würde hingegen ein instabiles Atom den »freien« Entschluss des Täters bewirken, wäre jede Abschreckung von vornherein wirkungslos und ein sozial verträgliches Zusammenleben illusorisch.
Helmut Fink/ Rainer Rosenzweig (Hg.): Freier Wille - frommer Wunsch? Gehirn und Willensfreiheit. Mentis Verlag Paderborn, 259 S., 29,80 EUR
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