An einer kulturellen Grenze

Wie die Kiewer Rus entstand und unterging - Akteur und Objekt eines Ost-West-Konflikts

  • Armin Jähne
  • Lesedauer: 6 Min.

Im 11. Jahrhundert, während ihrer größten Ausdehnung, umfasste die Kiewer Rus ein Territorium, das vom Schwarzen Meer den Dnjepr aufwärts bis an die Ostsee reichte, im Osten über den Don hinausging und im Westen Gebiete an der oberen Weichsel einschloss sowie im Nordosten an die Nördliche Dwina stieß. Das Kernland bildete die mittlere Dnjeprregion mit Kiew als Herz. In drei Jahrhunderten war ein gewaltiges Reich mit einem großen geopolitischen Potenzial entstanden, das bis heute eine schwer zu leugnende historisch-politische Nachhaltigkeit beweist. Als späte Erben der Rus können sich Russland, die Ukraine und Belarus betrachten. Folglich gibt es unterschiedliche Sichtweisen auf die Entstehung und historische Rolle dieses mittelalterlichen Staatsgebildes.

Umgeben war die Kiewer Rus von nicht weniger starken Reichen: von Byzanz, dass sich in Nahost bereits der anstürmenden Araber und Türken zu erwehren hatte, dem 1. Bulgarischen Königreich (bis 1018), dessen Einfluss auf die Rus von der russisch-sowjetischen Geschichtsschreibung teilweise verschwiegen wurde, das Khanat der Chasaren im Osten, die Reiche der Ungarn und Polen im Westen. Hinzu kamen die unruhigen Steppenvölker der Petschenegen und Polowzer, die eine ständige Bedrohung darstellten. Insofern befand sich die Rus an der kulturellen Grenze von Asien und Europa und wurde selbst Akteur wie Objekt eines uralten Ost-West-Konfliktes.

Träger der Kultur und Staatlichkeit der Kiewer Rus waren vornehmlich die ostslawischen Völker, deren Zusammenschluss im 9. Jahrhundert sich erstmals in einem Feldzug gegen Byzanz bewährte. Am Ende dieses Jahrhunderts übernahm Oleg die Herrschaft in Kiew (882-911). Er war als Anführer einer Gefolgschaft von Warägern gekommen, um offenbar ein Machtvakuum an der Spitze der Kiewer Gesellschaft auszufüllen. Dieser unbestrittene Umstand hat in Zusammenhang mit der Frage, welche Funktion den Nordmännern bei der Formierung ostslawischer Staatlichkeit zufiel, immer wieder zu Irritationen geführt; er sollte heute jedoch vorurteilsfrei und ohne nationale Empfindlichkeiten beurteilt werden. Am Anfang des Problems steht der zum Symbol gewordene Name Rurik. Dieser Rurik, aus Skandinavien stammend, wurde Fürst von Nowgorod und soll damals die Zwistigkeiten unter den Völkern Nordrusslands beendet haben. Im Grunde genommen hatte sich damit - in jener Zeit nichts Unübliches - lediglich ein Machtwechsel vollzogen. Nicht eine neue politische Struktur war geschaffen, sondern eine bereits vorhandene wieder hergestellt worden. Seit Urzeiten gab es ein Wegenetz aus Flüssen mit dem Dnjepr als Hauptachse, aus Landbrücken, sogenannten Schleppstellen für Boote und kleinere Schiffe, und Seen, das von den Nordmännern genutzt wurde, um in den »griechischen« Süden zu gelangen. Insofern waren die Waräger für die Ostslawen keine Unbekannten, was ihre Integration erleichterte.

Auf Oleg, der Nowgorod, Smolensk und Kiew vereint hatte, folgte Igor, der Sohn Ruriks. Er setzte die aktive Außenpolitik seines Vorgängers fort, unternahm zwei Heerfahrten gegen Byzanz und festigte die Verbindungen zum Chasarenreich. Dessen Besonderheiten bestanden in einer - inmitten von Nomadenvölkern - erstaunlich ausgeprägten städtischen Kultur und dem mosaischen Glauben, der neben Islam und Christentum unter den Chasaren weit verbreitet war. Sollte der Schriftsteller Arthur Koestler mit seiner Hypothese vom dreizehnten Stamm der Judäer - die mosaischen Chasaren - Recht haben, dann wären sie die Vorfahren der späteren osteuropäischen Juden, denn nach dem Zusammenbruch des Khanats am Ende des 10. Jahrhunderts zogen viele der Chasaren mosaischen Glaubens westwärts, wo sie vornehmlich in der Kiewer Rus ansässig wurden, auch als bäuerliche Produzenten.

Igors Frau Olga war eine der ersten aus der Kiewer Führungsschicht, die sich in Konstantinopel taufen ließ. Damit war ein Zeichen gesetzt - für die Zukunft, aber auch in Anerkennung jenes Vorganges, der als Christianisierung von unten bezeichnet werden darf. Seit Längerem schon hatte sich der christliche Glaube in der Bevölkerung der Rus verbreitet: von Byzanz, Bulgarien und dem Chasarenreich her und über den Apostel Andreas, der von der Südküste des Schwarzen Meeres via Krim an die Dnjeprmündung gelangte, flussaufwärts zog und an der Stelle des späteren Kiew, so heißt es, ein großes Holzkreuz aufrichtete. Großfürst Wladimir (980-1015) war es dann, der 988 den entscheidenden und wohlbedachten Schritt vollzog, als er das Christentum zur Staatsreligion erhob. Die Wahl der Konfession war Ausdruck eines gewachsenen Machtbewusstseins der Kiewer Führung. Dabei stand nicht der Glaube im Vordergrund, sondern die Ideologie. Speziell die orthodoxe, die rechtgläubige Art der christlichen Religion, die ihr eigene Unbeweglichkeit, das Starre und Entwicklungsfeindliche, schließlich ihre Totalität entsprachen in höchstem Maße dem Selbstverständnis der feudalen Autokratie, verkörpert im Kiewer Großfürstentum. Ins Gewicht fielen ebenso das rein Äußerliche, ihr Prunk, der den Menschen demütigende Ritus und seine Erhabenheit. Noch wichtiger jedoch war, dass die Ostkirche nicht wie die römische den Kampf zwischen geistlicher und weltlicher Macht um Dominanz kannte.

Nach Wladimirs Tod durchlebte die Rus eine erste schwere Krise. Anno Domini 1024 wurde das Reich mit dem Dnjepr als Trennlinie zweigeteilt. Die rechts des Flusses liegenden Gebiete mit Kiew erhielt Jaroslaw, Sohn des Wladimir, die Gebiete links davon sein Bruder Mstislaw. Nach dessen Tod wurde die Rus wiedervereint. Mit Jaroslaw, genannt auch »der Weise«, war ein hochgebildeter Herrscher an die Spitze der Rus gelangt, der ein ausgesprochenes Machtgespür besaß. Zwar blieb nach wie vor die Abwehr der Steppenvölker seine vorrangige Aufgabe, dennoch gelang es ihm mit viel Geschick und ganz auf der Höhe seiner Zeit, die Rus neu zu positionieren, indem er sie dynastisch, politisch und wirtschaftlich mit den Feudalstaaten Westeuropas vernetzte. Für seine Söhne besorgte er Bräute aus dem Norden. Die Lieblingstochter wurde Frau des norwegischen Königs. Eine der Schwestern sollte Polens Herrscher ehelichen. Die Tochter Anna wollte er mit dem späteren Kaiser Heinrich III. vermählen, um so dem Deutschen Reich näher zu kommen. Da Heinrich sich anders entschieden hatte, ging Anna an den französischen Hof. Dafür heiratete einer der Söhne Jaroslaws in die deutsche Dynastie ein. Eine weitere Tochter nahm sich der Ungarnkönig zur Frau.

Nun waren solcherart dynastische Verbindungen nicht ungewöhnlich, zeugen in dieser Dichte aber vom starken Streben Jaroslaws nach europäischer Integration. Einen Rückschlag brachte im Jahr seines Todes das große Schisma, als sich 1054 die Ostkirche mit der römischen Papstkirche entzweite. Der radikale Bruch von Orthodoxie und Katholizismus ist bis heute nicht überwunden.

Mitte des 12. Jahrhunderts schließlich zerfiel die Kiewer Rus. Eine Phase feudaler Zersplitterung begann, in deren Verlauf sich nun Moskau zum neuen politische Zentrum Russlands erhob.

Professor Armin Jähne, Jg. 1941, studierte Ende der 1960er Jahre an der Lomonossow-Universität in Moskau und war Dozent für Alte Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin; er ist Mitglied der Leibniz-Sozietät.

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