Bruder und Schwester, Liebe und Krieg

Pat Barker erzählt von einer trauernden Frau und einem Geheimnis, das sich erst spät enthüllt

  • Walter Kaufmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Roman »Tobys Zimmer«, geschrieben von der mit dem britischen Booker Preis ausgezeichneten Pat Barker zwei Jahrzehnte nach ihrer Trilogie über den Ersten Weltkrieg, scheint aus zwei grundverschiedenen Büchern zu bestehen. Anfangs fließt die Handlung stimmungsvoll dahin. Voller minutiöser, nicht selten allzu minutiöser Beschreibungen, wie mir scheint, mündet sie in eine inzestuöse Bruder-Schwester-Beziehung. Dem folgt ein spannungsgeladener, rasant gestalteter zweiter Teil, dessen Kern die Suche nach dem im Krieg als vermisst gemeldeten Captain Toby Brooke ist.

Elinor Brooke, die sich nach zwei Liebesnächten mit ihrem Bruder von diesem weder seelisch noch körperlich zu lösen vermag - erst hatte er sie vergewaltigt, dann begehrte sie ihn - will nicht wahrhaben, dass er gefallen sein könnte, dass sie ihn nie mehr wiedersieht. Sie bedrängt ihren Freund Paul Tarrant, dass er Kit Neville finden möge, der als Sanitäter unter ihrem Bruder, dem Militärarzt, gedient hatte. Wenn einer weiß, was mit ihrem Bruder geschah, dann nur Kit Neville. Dessen ist sie sich gewiss.

Doch weil erst spät im Roman das Geheimnis um Toby Brooke enthüllt wird, verbietet es sich, es schon hier zu tun. Jede bis zu Brookes Ende geschilderte Begebenheit ist spannungsgeladen, der Leser wird in ein Geflecht von Sehnsucht und Hass verstrickt, von Loyalität, Stolz und stoischer Verschwiegenheit - und in die Gräuel des Ersten Weltkrieges und damit in die Gräuel aller Kriege! Man ist an Goyas anklägerische Radierungen erinnert. Elinor Brooke, Malerin und einst Kunststudentin unter einem Professor Henry Tonks, der im Auftrag des britischen Kriegsministeriums zahllose im Gemetzel verstümmelte Soldatengesichter zu malen begonnen hatte, wird weiterführen, was jener begann - nicht bloß, weil sie so, wie vor ihr der Professor, der Arbeit der Chirurgen dienlich sein kann, sondern vornehmlich auch, weil sie in Kit Nevilles Nähe rücken will, der wegen einer argen Gesichtsverletzung von der Front weg ins Londoner Queens Hospital eingeliefert wurde. Was Kit Neville ihrem Freund Paul Tarrant und letztendlich auch ihr teils im Delirium, teils aus freien Stücken preisgibt, enthüllt für sie beide das Schicksal des Militärarztes Toby Brooke …

Wer die Erzählungen der Neuseeländerin Katherine Mansfield kennt, weiß, dass ihre stärksten Arbeiten um ihren gefallenen Bruder kreisen.

Keine der anfangs im Roman beschriebenen Landschaftsaquarelle der Elinor Brooke wirken eindringlicher als jene, in denen die Umrisse des Bruders zu erkennen sind - ganz so wie sich einem die Schrecken aller Kriege durch die Schlusskapitel von Pat Barkers Roman für lange einprägen werden.

Pat Barker: Tobys Zimmer. Roman. A. d. Engl. v. Miriam Mandelkow. Verlag Dörlemann. 397 S., geb., 23,90 €.

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