Der folgenschwere Umzug

Gisela Kraft hat bis zu ihrem Tod an ihren »deutsch-deutschen Erinnerungen« gearbeitet

  • Matthias Biskupek
  • Lesedauer: 3 Min.

Zweimal hatte Gisela Kraft ihr Leben in autobiografischen Büchern überdacht: im hinreißenden »Prinz und Python« die Jahre in der Westberliner Literaturwohnküche und in »Rundgesang am Neujahrsmorgen« das frühe Weimarer Kriegs-Exil. In ihren letzten, den glücklichen Weimarer Jahren, schrieb sie »Mein Land, ein anderes«. Manches Kapitel daraus, im privat-literarischen Kreis vorgetragen, machte Lust auf das Ganze. Doch einen kommerziellen Erfolg erwartete ihr Hausverlag Aufbau nicht. Abgelehnt.

Gisela Kraft arbeitete unverdrossen weiter. Als sie Anfang 2010 in Bad Berka starb, hatte sie den Text auf einem USB-Stick dabei, übergab den einer Freundin, wollte unbedingt die Veröffentlichung. Unter ihren Weimarer Freunden, die die Erben - ihre Schwestern - berieten, herrschte Uneinigkeit: Das Manuskript gehe mit der DDR zu freundlich um, das Stasi-Kapitel sei völlig unmöglich. Ganz wie schon bei Harald Gerlachs letztem Buch, dem Roman »Blues Terrano«, wurde befürchtet, ihre »Lebensleistung könne durch eine gewisse DDR-Verklärung irreparabel beschädigt werden«.

Nach drei Warte-Jahren erschien, gefördert durch die Stadt Weimar, das unveränderte, nur behutsam lektorierte Manuskript mit einem Vorwort von Martin Straub und einem »Nachwort verweht« von Nancy Hünger. »Deutsch-deutsche Erinnerungen«, die mit dem Umzug Gisela Krafts 1984 von Berlin-Kreuzberg nach Berlin-Friedrichshain beginnen: Ein Schritt wider den herrschenden Zeitgeist - nicht so sehr aus Liebe zur DDR-Administration, sondern aus Liebe zum Osten, zum Orient, zum Land zwischen Preußen und Balkan, zur »Sorbei«, wie sie betont, in der sie eigentlich hätte geboren werden müssen. Der wichtigste äußere Grund aber war, dass sie als Übersetzerin aus dem Türkischen im Westen keine Chance mehr hatte, im Osten aber eine wirtschaftliche Grundlage sah.

Was für die Jahre bis 1990 auch zutraf. So schreibt sie zum Jahr 1987: »Zenit meines Lese-Lebens. 53 Einträge im Kalender, sieben davon in Syrien, (Schriftstelleraustausch mit dem sozialistischen Morgenland (…) trautes Damaskus, wo uns, Wilhelm Bartsch und mich nach erfolgtem Lyrikvortrag (…) Deutschlektor Frank Quilitzsch zu Bier und Whisky auf die Terrasse lud, linde Abendluft, erfüllt von den betörenden Düften Arabiens).« In solchen klug komponierten Tagebuchnotizen, aber noch öfter in kleinen »Erzählchens«, wie Bobrowski das genannt hätte, scheint ein Leben auf, Gedichte behutsam eingefügt. Freundinnen, Schriftsteller, Partner kommen zur Sprache - und werden nimmer eingeordnet, sondern so belassen, wie sie in den Erinnerungen der Kraft haften blieben.

Ein Beispiel: Paul Wiens, gestorben 1982, von ihr wie von anderen Zeitgenossen »Interpaule« genannt, ist einer ihrer Vertrauten, ein Helfer in finsteren Zeiten. Jeder objektive Berichterstatter hätte wohl den heutigen Wikipedia-Eintrag vermeldet: »Von 1972 bis zu seinem Tode IM …« Nein, Gisela Kraft hat ihn so nicht erlebt, sie muss und will dieses also auch nicht mitteilen.

Im übrigen ist das Buch von DDR-Verklärung weit entfernt: »Mein zweites Land, die DDR, hat ein entsetzliches Sündenregister. (…) Mein erstes Land, die BRD samt vorgelagerter Insel West-Berlin, war der fettere Zwilling«.

Das Vorschlusskapitel »STIMMHAFT: CURRICULUM VOCIS« gliedert sie nach Lebensjahren - und den jeweiligen Problemen, die sie mit ihrer Stimme hatte. Eine Stimme, die ihre Freunde ohnehin im Ohr haben, und die für viele andere, auch durch dieses Buch, eine bleibende werden könnte.

Gisela Kraft: Mein Land, ein anderes. Deutsch-deutsche Erinnerungen. edition azur. 204 S., br., 19 €.

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