Im 21. Jahrhundert

Die Dresdner Bürgerbühne zeigt »Irrfahrten des Odysseus«

  • Volker Trauth
  • Lesedauer: 3 Min.

Odysseus, Held von Homers Jahrtausendwerk, der »Odyssee«, gilt als der berühmteste Irrfahrer der Weltliteratur. Zehn Jahre irrte er durch die Inselwelt des Mittelmeeres. Die Dresdner Bürgerbühne hat den Stoff auf ungewöhnliche Weise aufgegriffen.

Auf der Bühne agieren jüngere und ältere Bürger aus Afghanistan, England, Russland, aus der Türkei und aus Indien, die es nach Dresden verschlagen hat. In einer Fassung von Hajo Kurzenberger spielen sie den Text Homers, und unabweisbar scheinen ihre persönlichen Geschichten auf. Irrfahrten haben sie alle hinter sich: wie der junge Afghane Edress Barekzai, der nach einem halbjährigen Fußmarsch von Kabul über Litauen im Dresdner Asylantenheim gelandet ist, die Deutsche Anke Müller-Gupte, die mit ihrem Ehemann, einem Inder, in dessen Heimatland gezogen und mit dem gemeinsamen Sohn nach Dresden zurückgekehrt ist, der Inder Hussaein Jinah, der auf einem Schiff im Indischen Ozean geboren worden ist und später als Straßensozialarbeiter in Dresden gearbeitet hat, oder der Deutsche Mario Herzig, der nach dem Abitur auf der Fregatte »Bayern« als Zeitsoldat gedient, an mehreren Auslandseinsätzen teilgenommen hat und sich nun auf den Beruf des Psychotherapeuten vorbereitet, um traumatisierten Matrosen helfen zu können.

Erlebtes und bei Homer Gelesenes durchdringen sich in den Szenen, die wichtige Stationen von Odysseus’ Irrfahrten nachbilden. Als Personifikation der wartenden Penelope sitzen die Frauen auf einem Sofa, das berühmte Leichengewand für Odysseus strickend, und spielen die archetypische Grundsituation des Wartens durch: Die eine wartet vergebens darauf, mit ihrem indischen Ehemann ein erfülltes Eheleben zu finden, eine andere wartet darauf, dass ihr Freund, ein Komponist, neben seiner Konzerttätigkeit Zeit für die Hochzeit findet.

In einer Szene mit der Überschrift »Hades«, in der es um die Überwindung der Todesangst geht, erleben wir die Deutschrussin Olga Berndt in ihrem vergeblichen Bemühen, Ärzte, die sie von ihrer lebensbedrohenden Krankheit befreien könnten, zu bestechen. Wenn im Originaltext Homers beim Schlachten der Opfertiere Gestalten aus der Unterwelt erscheinen, taucht hier aus dem Dunkel ein von den Taliban getöteter Familienvater auf, dem seine Witwe ewige Liebe schwört.

Ein letztes Beispiel: Der von Poseidon verursachte Sturm verwandelt sich in einen Sturm, in den deutsche Matrosen vor der Küste Ostafrikas geraten. Weil die persönlichen Erfahrungen der Spieler oft ganz andere sind, als die der Homerschen Helden, werden manche Szenenschlüsse umgedeutet. Odysseus und seine Gefährten werden nicht zu beklagenswerten Opfern des Riesen Polyphem, sondern sie, einer rechten Rockerbande gleich, legen den auf menschenverachtende Weise herein, und die treu wartende Penelope beteuert dem heimkehrenden Helden ihre anhaltende Liebe, aber entschließt sich, nun ihren eigenen Weg gehen zu wollen.

Die Regie (Miriam Tscholl) hat wiederholt auf heutige Requisiten und Gerätschaften zurückgegriffen: Penelopes Abschiedsbrief wird von ihr, sich immer wieder korrigierend, in einen Laptop getippt und auf einen Bildschirm übertragen. Moderne Winderzeuger unterstützen die Drohungen des Gottes Poseidon und ein riesiges Zellophanknäuel verwandelt sich in den Stein, der vor Polyphems Höhle gerollt wird, in den transparenten Schleier, hinter dem sich Poseidon verbirgt, oder in uniforme Ärztekittel der auf Bestechung wartenden Spezialisten.

Schauspielerisch ist der Abend vor allem dann überzeugend, wenn die Darsteller - so tiefempfunden wie wehmutsvoll - an die verlassenen Schönheiten ihrer Heimat oder an dort erlebte Begegnungen zurückdenken oder wenn sie sich gedanklich auseinandersetzen mit der weltpolitischen Tragweite von Ereignissen, in die sie ungewollt hineingestoßen worden sind.

Wenn Mario Herzig, der Matrose von der Fregatte »Bayern« über die fragwürdige Notwendigkeit des Afghanistan-Einsatzes nachsinnt, da wird ohne theatralischen Aufputz bewusst gelebtes Leben als Figurenhintergrund erkennbar und sein Entschluss glaubhaft, sich in Zukunft für traumatisierte Soldaten einsetzen zu wollen.

Insgesamt: Ein beeindruckender Abend, der die szenische Wirksamkeit von ehrlicher Zeitzeugenschaft beweist.

Weiter am 29. 3.

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