Werbung

Gott und die Moral

An welchen Werten orientieren sich konfessionsfreie Menschen in Ost und West? Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 6 Min.

Nach einer Statistik der »Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland« sind rund 37 Prozent der Bundesbürger konfessionsfrei. Oder »konfessionslos«, wie sich vor allem christlich geprägte Autoren gern ausdrücken. Schon diese Wortwahl suggeriert, dass Menschen, die keiner Kirche angehören und im Allgemeinen auch keiner Religion anhängen, irgendwie als »Mängelwesen« anzusehen seien.

Letzteres offen zu äußern, wagen freilich nur wenige Christen. Einer davon ist der Schriftsteller und Büchnerpreisträger Martin Mosebach. In einem Interview mit der Tageszeitung »Die Welt« erklärte er rundheraus, dass Nichtreligiöse in ihrer Vollausbildung als Menschen beeinträchtigt seien: »Unglaube ist ein Mangel. Ein Leben in völliger Abkehr von Gott ist eine reduzierte Existenz.« Manche Christen bezweifeln sogar, dass nichtgläubige Menschen in moralischen Fragen kompetent urteilen können. Und sie treffen damit den Geist der Zeit, wie er sich etwa in den Statuten der öffentlichen Moral- und Ethikgremien widerspiegelt. Nehmen wir als Beispiel die Medienräte der Bundesländer, in denen wie selbstverständlich die evangelische Kirche, die römisch-katholische Kirche und die israelischen Religionsgemeinschaften vertreten sind. In Bremen kommt überdies ein Sitz für die Muslime hinzu. Was man in den Medienräten hingegen vergeblich sucht, ist ein Vertreter der Konfessionsfreien, die immerhin ein gutes Drittel der hiesigen Bevölkerung ausmachen. Im Osten sind es sogar über 70 Prozent. Und obwohl sich lediglich 46 Prozent der Ostdeutschen als Atheisten bezeichnen, ist laut einer Studie der University of Chicago das Gebiet der ehemaligen DDR heute die »gottesfernste Region der Welt«.

Woran aber halten sich Menschen, die nicht an Gott glauben? Was bestimmt ihr Handeln? Und welche Prinzipien liegen ihrem Wertesystem zugrunde? Um das im Konkreten herauszufinden, hat die Berliner Philosophin Rita Kuczynski über 50 konfessionsfreie Frauen und Männer aus Ost- und Westdeutschland befragt und deren Antworten systematisch ausgewertet. Das lesenswerte Buch, das dabei entstanden ist, zeigt vor allem eines: Die humanistischen Werte unserer Kultur sind keine genuin christlichen Werte. Das heißt, um sie zu begründen, ist ein religiöser Bezug nicht notwendig. Patrik (34), Marketingleiter aus Osnabrück, erklärte dazu im Interview mit Kuczynski: »Mich überzeugt Kants kategorischer Imperativ. Mich beeindrucken Werte wie Rücksichtnahme (auch gegenüber künftigen Generationen), Nächstenliebe, Gleichheit.« Tatsächlich ist nicht einmal die Nächstenliebe eine christliche Erfindung, sondern eine Tugend, ohne die es keine menschliche Kulturentwicklung gäbe.

In der Einleitung des Buches bekennt die Autorin, dass auch sie weder einer Konfession angehöre noch an ein transzendentes Wesen glaube. Trotzdem fühle sie sich nicht als Ungläubige. Denn: »Jeder Mensch glaubt. Es ist eine Vorverurteilung zu behaupten, wer nicht an Gott glaube, habe überhaupt keinen Glauben.« Eine solche Aussage trifft, wie ich finde, nur bedingt zu, zumal Kuczynski fortfährt: »Die einen glauben an die Menschenrechte, die anderen an ihre Mutter, wieder andere an die Evolution oder an die Liebe.« Hier wird dasselbe Wort benutzt, um vom Wesen her unterschiedliche Sachverhalte zu beschreiben. Geht man indes davon aus, dass Glaube ein religiöses Bekenntnis ist, wird man nicht umhin können, zumindest die Atheisten als »Nichtgläubige« zu bezeichnen. Und damit ist keine Diffamierung verbunden. Denn weder an die Evolution noch an die Menschenrechte mag man im strengen Sinne »glauben«. Man kann lediglich überzeugt sein, dass in der Natur eine Evolution stattfindet und dass es sich letztlich lohnt, für die Einhaltung der Menschenrechte zu streiten.

Es steht zu vermuten, dass viele der Befragten ähnlich denken, auch wenn sie dies praktischerweise anders formulieren. Ernst (76), Journalist aus der Uckermark, sagt: »Ich hoffe, glauben zu dürfen, dass es der Menschheit doch noch gelingt, der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit näher zu kommen.« Stimmen wie diese sind keine Ausnahmen. Es fällt vielmehr auf, dass Ostdeutsche, die nicht religiös gebunden sind, nach wie vor an der Vision einer sozial gerechten Gesellschaft festhalten oder sich an großen Menschheitsfragen orientieren. So wie Maja (40) aus Berlin-Friedrichshain, die hofft, dass die Erde von den Menschen nicht zerstört wird. Dagegen betonen westdeutsche Konfessionsfreie vor allem die Möglichkeiten des Individuums. Wilhelm (51), Buchhändler aus Celle, sagt zum Beispiel: »Ich glaube an mich und an meine Existenz.« Auch Nadine (38), Werbetexterin aus Düsseldorf, ist überzeugt, »dass jeder Mensch die Aufgabe hat, das Beste aus seinem eigenen Leben zu machen«.

Die damit verbundene Frage, ob das Leben überhaupt einen »höheren« Sinn habe, beantworten 90 Prozent der Interviewten mit Nein. »Der Sinn meines Lebens ist das Leben an sich«, sagt Friedrich (44), Biologe aus Potsdam. Hanno (52), Informatiker aus Bremen, sieht das ähnlich: »Das Leben hat nur den Sinn, den ich ihm gebe.« Sobald es jedoch um die konkreten Formen der Selbstverwirklichung geht, findet man zwischen Ost und West erneut deutliche Unterschiede. Während westdeutsche Konfessionsfreie großen Wert darauf legen, im Leben Glück, Erfolg und Spaß zu haben, ist es für viele Ostdeutsche auch nach dem Scheitern des Realsozialismus wichtig, »für andere Menschen da zu sein, mit anderen gemeinsam etwas zu hinterlassen«, wie es Andreas (62), Politiker aus Mecklenburg-Vorpommern, ausdrückt.

Im Rahmen ihrer Befragung stellte Kuczynski überdies fest, »dass sich die wichtigen persönlichen Werte der Nichtreligiösen von den persönlichen Werten der Religiösen nur in Nuancen unterscheiden«. Ganz oben auf der Werteliste steht Ehrlichkeit, gefolgt von Zuverlässigkeit, Rücksichtnahme gegenüber anderen Menschen, Freundschaft, Freiheit und Solidarität. Trotz aller Gemeinsamkeiten in den Wertesystemen gibt es zwischen den nichtreligiösen Menschen in Ost und West auch einige Differenzen. Beispiel Gerechtigkeit. Diesen Wert verknüpfen Ostdeutsche viel stärker mit sozialen Erwartungen als Westdeutsche. Ein weiterer Unterschied betrifft die Ökologie. Das Bemühen, die natürliche Umwelt zu schützen, hat bei Westdeutschen eine höhere Priorität als bei Ostdeutschen, zumindest bei denen, die befragt wurden.

Während die meisten Christen glauben, dass ihr Leben nach dem Tod in irgendeiner Form weitergehen werde, haben Menschen ohne religiöse Bindung einen solchen »Trost« nicht. »Tot ist tot«, sagt Sigrid (72) aus Berlin-Pankow. »Man kann nur in seinen Kindern und Enkeln weiterleben, kann ihnen seine Erfahrungen weitergeben.« Andere betrachten den Tod aus kosmischer Perspektive. Typisch hierfür ist eine Äußerung von Annelie (40), Sozialarbeiterin aus Kaufbeuren: »Natürlich geht es persönlich nicht weiter. Aber im Universum. Schließlich sind wir von Sternenstaub gemacht, und daher werden wir im Kosmos nicht verloren gehen, und irgendwann werden wir wieder zu Sternenstaub werden.«

Zugegeben: Nicht alle konfessionsfreien Menschen sehen das Problem des Todes so rational und nüchtern. Manche suchen Halt im Zweifel, wie Monika (67), Neurologin aus Brandenburg: »Keiner weiß, ob es weitergeht, denn niemand ist je zurückgekehrt.« Auch die bereits erwähnte Maja aus Berlin-Friedrichshain hat mit dem endgültigen Abschied ihre Schwierigkeiten: »Wenn wirklich nichts weiterginge nach dem Tod, wäre das ja doch sehr traurig.« Ein solches existenzielles Unbehagen ist zweifellos menschlich. Und es verführt bisweilen sogar überzeugte Atheisten dazu, in extremen Notsituationen wenigstens für einen kurzen Moment auf eine »höhere« Fügung zu hoffen.

Rita Kuczynski: Was glaubst du eigentlich? Weltsicht ohne Religion. Ch. Links Verlag Berlin, 187 S., 16,90 €.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal