Wie wir gelebt haben sollten

Die Energiewende steht erst am Anfang. Deindustrialisierung ist nicht das Thema, wohl aber der Weg der Transformation

  • Susanne Ehlerding
  • Lesedauer: 6 Min.

Glaubt man der deutschen Industrie, wird ihr Untergang jetzt gerade noch abgewendet. »Die Energiewende birgt das Risiko einer Deindustrialisierung«, hatte es in den vergangenen Wochen im Zusammenhang mit der Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG), die derzeit im Parlament beraten wird, immer wieder geheißen. Auch Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel, aus dessen Hause der industriefreundliche Gesetzentwurf stammt, führte das Wort im Munde. Dabei führt der SPD-Vorsitzende gerne auf das Beispiel einer Papierfabrik in Fulda an: Deren Stromkosten würden von 500 000 Euro auf sieben Millionen pro Jahr steigen, habe er sich sagen lassen. Das würde bedeuten, »dass das Unternehmen in die Insolvenz geht«.

Nun ist offenbar alles wieder gut, eine Abwanderung deutscher Unternehmen ins Ausland und eine Pleitewelle sind nicht mehr zu befürchten. Die nach wie vor üppigen Ausnahmen für energieintensive Unternehmen bei der EEG-Umlage bleiben bestehen, dutzende Branchen können nach dem Einknicken der EU-Kommission von der Ökostromabgabe weitgehend befreit bleiben. »Die künftigen Regelungen sichern die Chancen, industrielle Arbeitsplätze in Deutschland dauerhaft zu bewahren«, sagte der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Ulrich Grillo.

Was kostet der Strom?

28,30 Cent wird ein deutscher Privathaushalt in diesem Jahr durchschnittlich für die Kilowattstunde (kWh) Strom berappen müssen. So erwartet es jedenfalls das Internetportal Verivox. Der nach oben zeigende Trend setzt sich damit fort. Vor zehn Jahren betrug der Preis pro kWh noch 17,81 Cent.

Doch bei den Stromverbrauchern gibt es eine echte Zweiklassengesellschaft. Privatleute bekommen von der Tatsache nichts mit, dass der starke Ausbau der erneuerbaren Energien den Strompreis längst massiv gedrückt hat. Anders sieht das bei Großhändlern und energieintensiven Industriebetrieben aus, die sich an der Leipziger Energiebörse (EEX) eindecken: Dort ist Strom so billig wie seit acht Jahren nicht mehr. Wer im Januar vergangenen Jahres Strom für 2014 einkaufte, musste lediglich 4,31 Cent/kWh berappen. Und es ging weiter bergab: Im Dezember 2013 betrug der Preis nur noch 3,69 Cent/kWh. Niedrige Strompreise scheinen auch kein vorübergehendes Phänomen zu sein: Wer derzeit schon mal für das Jahr 2020 vorbestellt, bewegt sich preislich ebenfalls unter vier Cent/kWh. Dabei sollen bis dahin drei Kernkraftwerke abgeschaltet werden, was das Stromangebot reduziert.

Die Ursache für die hohen Privatkundenpreise ist also nicht der Ökostromausbau, sondern sind politische Vorgaben der schwarz-gelben Bundesregierung aus dem Jahr 2010. Seither müssen Wind- und Solaranlagenbetreiber ihren Strom über die Börse verkaufen. Dies reduziert für Großabnehmer den Preis, während die EEG-Umlage steigt - deren Höhe bemisst sich nach der Differenz zwischen den Vergütungen für die Betreiber regenerativer Anlagen und den Börsenstrompreisen. Ausgerechnet die Profiteure der Entwicklung, industrielle Stromgroßverbraucher, sind zusätzlich von der EEG-Umlage oder den Netzentgelten teilweise oder ganz befreit. Diese Rabatte werden den Privathaushalten auch noch übergeholfen. Von den sinkenden Börsenpreisen hingegen profitieren sie nicht: Zahlreiche Versorger kaufen nämlich gar nicht an der EEX ein, sondern haben einen für sie risikolosen Liefervertrag mit einem der großen Stromerzeuger und -händler über mehrere Jahre abgeschlossen.
Kurt Stenger

 

Was er freilich nicht sagt: Durch die Energiewende profitieren deutsche Unternehmen von einem Strompreis an der Leipziger Energiebörse, der für Großkunden nicht einmal vier Cent pro Kilowattstunde beträgt. Dieser Preisverfall ist das Verdienst der Erneuerbaren, weil sie als erste ins Stromnetz eingespeist werden. Dadurch schieben sich alle weiteren Kraftwerke in der Reihenfolge ihrer Brennstoffkosten nach hinten. Die Folge: Der Börsenstrompreis fällt.

Die Klagen über eine drohende Deindustrialisierung zeigen sich in diesem Licht als ein »Schreckgespenst, das politisch genutzt wird«, meint Klaus Fichter, Professor für Innovationsmanagement und Nachhaltigkeit an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. »Strukturwandel hat immer damit zu tun, dass sich Leute beschweren. Aber im Großen und Ganzen sehe ich die Gefahr der Deindustrialisierung überhaupt nicht«, meint er. Zwar könne es im Einzelfall Unternehmen geben, die massiv unter hohen Strompreisen leiden. Das sind kleinere Betriebe, die einen hohen Stromkostenanteil haben, aber nicht genug verbrauchen, um bisher unter die Ausnahmeregelung zu fallen.

Im Durchschnitt machen die Stromkosten ohnehin nur 2,1 Prozent der Bruttowertschöpfung deutscher Unternehmen aus. Diese Zahl veröffentlichte die Heinrich-Böll-Stiftung in ihrer jüngst erschienenen Broschüre »Energiewende 2.0. Aus der Nische zum Mainstream«. Die Deindustrialisierung wird darin als »Legende« bezeichnet. Weitere Zahlen als Unterstützung für diese Aussage: Der Geschäftsklimaindex des Ifo-In-stituts sei so gut wie zuletzt 2012, der deutsche Außenhandelsüberschuss habe 2013 nach Berechnungen des gleichen Instituts 200 Milliarden Euro betragen. Kurzum: »Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit sucht weltweit ihresgleichen«, schreibt der Autor der Broschüre, Gerd Rosenkranz.

»Manche sagen, es läuft auch wegen der Energiewende gut«, meint Rosenkranz. Klaus Fichter bestätigt das: »In erneuerbaren Energien, Energieeffizienz und klimaangepassten Produkten steckt eine ungeheure Wettbewerbschance.« Immerhin 380 000 Arbeitsplätze hingen 2012 direkt oder indirekt von den Erneuerbaren ab, informiert das Bundesumweltministerium. Der Anteil der Branche an der deutschen Wertschöpfung betrug zuletzt rund 25 Milliarden Euro, hat das Institut für ökologische Wirtschaftsforschung in Berlin berechnet.

»Handwerk, Maschinen- und Anlagenbau können sich als Gewinner der Energiewende betrachten. Sie bedeutet, dass in erheblichem Umfang investiert werden muss«, sagt Erik Gawel, Ökonom am Helmholtz-Zen-trum für Umweltforschung in Leipzig. »Branchen, die hier Leistungen erbringen, und Handwerker, die Solaranlagen bauen oder Heizungen austauschen, sehen geradezu einem Konjunkturprogramm entgegen.«

Auch in der wirtschaftlichen Strategie der EU sollen die Erneuerbaren eine große Rolle spielen. Anfang des Jahres verabschiedete das Europaparlament eine Entschließung, laut der nachhaltige Technologien zu fördern seien. Diese verfügten nämlich über das Potenzial, die industrielle Basis der EU zu erneuern und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.

Allerdings hat die große Transformation der Wirtschaft hin zu einer kohlenstoffarmen Energieerzeugung und Produktion gerade erst begonnen, sagt Helmholtz-Forscher Gawel. Bis 2050 soll der Kohlendioxidausstoß EU-weit dann um mindestens 80 Prozent gegenüber 1990 gesunken sein. Das Problem dabei: So richtig es ist, die Emissionen zu reduzieren, so wenig hilft diese Erkenntnis dabei, die Regeln für den Übergang zu schaffen, so Johannes Meier, Geschäftsführer der European Climate Foundation. Er sieht ein Dilemma zwischen den unbestrittenen langfristigen Vorteilen der Energiewende einerseits und den kurzfristigen Kosten und Risiken für verschiedene Industrien andererseits.

Wie genau der Übergang von der heutigen Wirtschaftsweise zur neuen, kohlenstoffarmen geschehen soll, weiß heute noch niemand. Durchgerechnet hat das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE), dass eine Umstellung auf 80 Prozent Erneuerbare bis 2050 möglich ist. Auch 100 Prozent wären technisch machbar, aber sehr teuer, sagt ISE-Chef Eicke Weber. Für die Umstellung auf 80 Prozent Erneuerbare veranschlagen die Wissenschaftler 200 bis 300 Milliarden Euro. Etwa die gleiche Summe werde allerdings beim Import von fossilen Brennstoffen gespart.

Voraussetzung sind technische Fortschritte bei den Stromspeichern, eine gute Steuerung von Angebot und Nachfrage beim Stromverbrauch, die Umstellung des Verkehrs entweder auf (Öko-)Strom oder Wasserstoff, die europaweite Vernetzung der Stromleitungen, die konsequente Nutzung von Abwärme und natürlich mehr Energieeffizienz. Mit diesem Begriff ist nicht nur ein besseres Ausnutzen von Energie gemeint, sondern auch ein echtes Einsparen. Denn allzu oft werden Effizienzgewinne durch den sogenannten Rebound-Effekt wieder zunichte gemacht: Das durch niedrigeren Verbrauch eingesparte Geld wird an anderer Stelle wieder ausgegeben, so dass der Energieverbrauch summa summarum nicht oder kaum sinkt. Zum Beispiel, wenn eine Energiesparlampe dauerhaft brennt, weil sie so wenig Strom verbraucht.

Die Umstellung des Energiesystems ist ein riesiger Kraftakt. Allerdings wird er nicht ausreichen, meint der Zukunftsforscher Harald Welzer. »Unser Ressourcenverbrauch muss um den Faktor fünf sinken, sonst ist das Ende der Sackgasse schnell erreicht«, sagte Welzer bei der Veranstaltung »Die transformierte Stadt« in Berlin. Damit ist er einer der Fürsprecher von Suffizienz, einem Konzept, das die Beschränkung des Rohstoff- und Energieverbrauchs in den Mittelpunkt stellt. Forscher wie Welzer überlegen, wie man »das herrschende Wohlstandsverständnis in seiner Bindung an materielle Güter so verändern kann, dass eine die natürlichen Lebensgrundlagen schonende Entwicklung in der Gesellschaft Wurzeln schlagen kann«. So beschreibt es das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie.

Unter den Umweltökonomen stehen sich daher zwei Fraktionen gegenüber. Die einen meinen, »Wohlstand ohne Wachstum« sei möglich. So lautet der Titel eines Buchs von Tim Jackson, dem ehemaligen Umweltberater der britischen Regierung. Andere wie der Grüne Ralf Fücks wollen »Intelligent wachsen«, so der Titel seines Buchs. »Die Weltwirtschaft wird sich in den nächsten 20 Jahren verdoppeln. Suffizienz ist nicht die Antwort auf dieses Wachstum«, sagt Fücks. »Grünes Wachstum gibt es nicht«, hält ihm der Oldenburger Volkswirt Niko Paech entgegen.

Diese Debatten verdeutlichen, dass der gute alte Konsumverzicht in den bürgerlichen Mainstream zurückgekommen ist. Im Gewand eines schicken Minimalismus fand er Eingang in das Wochenblatt »Die Zeit« und gelangte auf die Titelseite des »Spiegel«. Weniger Konsum bedeutet weniger Ballast und oft auch weniger arbeiten müssen, so der Tenor. Das könnte ohnehin kommen, wenn alle mitmachen, denn weniger Konsum bedeutet auch weniger Produktion und weniger Arbeitsplätze, jedenfalls im heutigen System.

Die Zukunft dürfe man sich aber nicht als »hochskalierte Gegenwart« vorstellen, sagt Harald Welzer. Transformationsprozesse könne man nicht vorhersehen. »Wir täten aber gut daran, uns auf ein Weniger umzustellen«, meint der Zukunftsforscher, sonst seien die zivilisatorischen Errungenschaften in Gefahr, die mit dem beispiellosen Erfolg des Kapitalismus einhergingen: Verdoppelung der Lebenserwartung, Bildung, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Dann könnte es doch so kommen wie in der düsteren Zukunftsvision, die der Cambridge-Professor Stephen Emmott in seinem Buch »Zehn Milliarden« entwirft. Es schließt mit dem Satz: »Ich würde meinem Sohn beibringen, wie man mit einem Gewehr umgeht.« Ob das nötig wird, werden bestenfalls die Jüngeren von uns erleben.

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