Afghanistan - Position der Russischen Föderation

Interview mit Igor Morgulov

  • Lesedauer: 5 Min.
In diesem Jahr werden die NATO/ISAF-Truppen ihre Kampfmission in Afghanistan beenden. Wie sind die Perspektiven für die Entwicklung im Land und der Region danach? Wird es einen stabilen Frieden geben oder wird das Land im Chaos versinken? Als eine mit Zentralasien verbundene Macht ist Russland an Frieden und Stabilität in der Region interessiert. WeltTrends sprach über diese Fragen mit Igor Morgulov, dem stellvertretenden Minister für Auswärtige Angelegenheiten der Russischen Föderation.

WeltTrends: Herr Minister, wie schätzt Russland die Sicherheitslage in Afghanistan ein?
Morgulov: Die Situation in Afghanistan ist bei Weitem nicht stabil. […] Wir sind uns nicht gewiss, ob die Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte in der Lage sind, eine Revanche der Taliban zu verhindern. Nach wie vor gibt es einen hohen Prozentsatz an Fahnenflüchtigen und die Korruption ist weit verbreitet. Jüngste Angriffe der Taliban haben die Schwäche der afghanischen Streitkräfte gezeigt. Mehr noch, die Aktionen der bewaffneten Opposition haben eine neue Qualität erreicht. […] Besondere Sorgen bereitet uns, dass das Niveau der terroristischen Aktivitäten in den drei nordöstlichen afghanischen Provinzen Badachschan, Tachar und Kunduz in den vergangenen Monaten dramatisch zugenommen hat. Die Zahl der bewaffneten Kämpfer in diesen Provinzen hat sich auf etwa 5.000 erhöht. Immerhin war der Norden Afghanistans vor drei bis vier Jahren noch relativ ruhig und stabil.

WeltTrends: Welche Hauptprobleme sieht Russland im Hinblick auf den ISAF-Rückzug?
[…] Gegenwärtig sehen wir keine echten Fortschritte [bei der Verstärkung der Kampfkraft der afghanischen Streitkräfte]. Mehr noch! Mitunter haben wir den Eindruck, dass die internationalen Streitkräfte so schnell wie möglich Afghanistan verlassen wollen, während die afghanische Armee die Verantwortung für die Sicherheit übernimmt und den Ländern der Region diese »heiße Kartoffel« überlassen wird. […]

WeltTrends: Was ist Ihre größte Sorge im Hinblick auf Afghanistan und die zentralasiatische Region?
Wir sind besonders besorgt über die anhaltenden Drogenlieferungen aus Afghanistan. […] Es ist höchste Zeit, hier das Potenzial der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS) einzubeziehen. Die Organisation hat beträchtliche Erfahrungen gesammelt im Kampf gegen den Drogenverkehr entlang der nördlichen Grenzen Afghanistans. Erfolg wäre möglich, wenn wir mit der Kooperation auf diesem Gebiet beginnen. Ein gutes Beispiel ist die Ausbildung von Personal für die Antidrogenstrukturen von Afghanistan, Pakistan und die Länder Zentralasiens in unseren Trainingszentren in Domodedovo und Sankt Petersburg. Mehr als 3.000 Beamte der Länder der Region wurden dort ausgebildet.

WeltTrends: Wie kann die internationale Zusammenarbeit zur Stabilisierung Afghanistans und der Region beitragen?
Ich möchte betonen, dass ein sicheres und stabiles Afghanistan in unserem gemeinsamen Interesse ist. […] Russland, die NATO und die EU sollten ihre Aktionen koordinieren, um die Wirkung zu vergrößern. Nötig sind eine gemeinsame unparteiische Analyse der Lage in dem Land und ein regulärer Meinungsaustausch zwischen uns. Klar ist auch, dass ohne eine umfassende Strategie für Afghanistan, die nicht nur militärische Mittel beinhaltet, eine langfristige Stabilität im Land und der benachbarten Region nicht möglich ist. Wichtig ist auch, die Aktionen hinsichtlich der künftigen NATO-Mission Resolute Support zu koordinieren. Das betrifft das Training von Personal und die Versorgung der afghanischen Armee mit Waffen und Ausrüstungen. […]

WeltTrends: Wie könnte die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) zu Frieden und Entwicklung in Afghanistan und der Region beitragen?
Die regionale Kooperation muss eine Schlüsselrolle spielen bei der Lösung der Probleme in und um Afghanistan. Alle wichtigen Staaten der Region sind Mitglieder oder Beobachter der SOZ. Afghanistan ist Beobachter seit 2012. Damit verfügt die Organisation über ein optimales Potenzial, um zur Stabilität in Afghanistan und der Region beizutragen. Das gilt ganz besonders für die Bekämpfung von Terrorismus und Extremismus, aber auch für die Stärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Die SOZ möchte Afghanistan als unabhängigen, neutralen, friedlichen und prosperierenden Staat sehen. Das wurde in der Bishkek-Deklaration der Staatschefs der SOZ-Mitgliedstaaten vom September 2013 klar herausgestellt. Wir glauben, dass die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Stabilität vollständig in den Händen der Afghanen selbst liegen sollte, natürlich mit adäquater Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft. Die SOZ kann Afghanistan wirksam in die ökonomische Kooperation innerhalb der Organisation einbeziehen und gemeinsame soziale und wirtschaftliche Entwicklungsprojekte vorschlagen, die im Lande umzusetzen sind.

WeltTrends: Was erwartet Russland von Deutschland, um das Afghanistanproblem zu lösen?
Russland und Deutschland verfügen bereits über Erfahrungen in der effektiven bilateralen Zusammenarbeit zu Afghanistan. Im August 2009 wurde das gemeinsame Projekt zur freien Lieferung von zwei Mi-8-Hubschraubern mit medizinischer Evakuierungsausrüstung für das Innenministerium Afghanistans durch unsere Länder umgesetzt. Wir halten es für möglich, das Zusammenwirken zwischen Russland und Deutschland beim sozioökonomischen Wiederaufbau auszudehnen. Russland arbeitet auch aktiv mit Deutschland im Rahmen des NATO-Russland-Rates zusammen. Da deutsche Truppen für die nördlichen afghanischen Provinzen zuständig sind, könnte für eine solche Kooperation die Schaffung eines verlässlichen Verteidigungsschirms gegen terroristische und narkotische Bedrohungen in Nordafghanistan eine Aufgabe von hoher Priorität sein. Wir schätzen den deutschen Beitrag zur Verwirklichung des bereits genannten Helicopter Maintenance Trust Fund und zum Antidrogentraining von Personal aus Afghanistan, Pakistan und Zentralasien hoch ein. Berlin nutzt aktiv die von Russland zur Verfügung gestellten Transitmöglichkeiten. Wir sind bereit, diese Kooperation fortzusetzen und zu erweitern.

Das Interview führte Hubert Thielicke am 25. Februar 2014. Es erschien im Forum »Abgrund Afghanistan« der WeltTrends-Ausgabe Nr. 95 »Die USA und Wir«. Ebenfalls analysiert darin Muzaffar Olimov die tadschikisch-afghanischen Beziehungen. Das Forum wird in den folgenden Ausgaben fortgesetzt, u.a. mit David Ramin Jalilvand und Karl Fischer.

Über den Autor: Igor Morgulov, geb. 1961, wurde im Dezember 2011 zum stellvertretenden Minister für Auswärtige Angelegenheiten der Russischen Föderation ernannt.

Das vollständige Interview erschien in WeltTrends Nr. 95 »Die USA und Wir« (März/April 2014).

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