»Der Umsturz war kein Unfall«

Der Europa-Abgeordnete Helmut Scholz über den Wahlkampf der Linken, das umstrittene Freihandelsabkommen TTIP und den Konflikt in der Ukraine

  • Lesedauer: 9 Min.
Der LINKE-Politiker Helmut Scholz (59) ist seit 2009 Abgeordneter des Europaparlaments und arbeitet unter anderem in den Ausschüssen für Internationalen Handel und Auswärtige Angelegenheiten. Dort brachte er wiederholt Anträge zum Freihandelsabkommen EU-USA (TTIP) und zum einseitigen Vorgehen der EU in der Ukraine ein. Mit ihm sprach für »nd« Uwe Sattler.

nd: Der Wahlkampf geht zu Ende. Mit welchen Themen konnte die LINKE punkten?
Scholz: Punkten konnte die LINKE vor allem dann, wenn sie die Fragen und Erwartungen der BürgerInnen ernst nimmt. Egal ob nun die Wahlen zum Europaparlament oder die Kommunalwahlen: Es sind zuallererst soziale Fragen, die die Menschen bewegen. Und zwar bei weitem nicht nur die Verhältnisse hierzulande, sondern auch in den südeuropäischen Staaten, in denen die Sozialsysteme zu einem großen Teil zerschlagen wurden und wo, wie in Griechenland und Spanien, mehr als jeder zweite Jugendliche arbeitslos ist. In vielen Podien und Gesprächen hat sich gezeigt: Linke Antworten werden von jungen Menschen auch z.B. in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern angesichts konkreter Erfahrungen im Bildungs- und Ausbildungsbereich, der Chancen auf sichere und gute Arbeit und der auch im »reichen Deutschland« zunehmenden Altersarmut erwartet. Ein Fakt, der in vielen Familien traurige Realität ist. Gerade in dieser Hinsicht verlangen die BürgerInnen konkrete Antworten auch von der Politik auf kommunaler, regionaler und EU-Ebene.

Das klingt ziemlich abstrakt.
Nein, es ging und geht nicht um abstrakte Debatten, sondern um Antwort und Aufklärung darüber, wer für welche Entscheidung über ihren Alltag wo verantwortlich zeichnet. »Punkten« also auch mit Transparenz, mit dem Aufzeigen der Zusammenhänge von Politikentscheidungen zwischen Schwerin, Berlin und Brüssel beispielsweise. Denn die Regierungen der Mitgliedsländer bewirken ja durch die Delegierung ihrer Verantwortung für die heutige soziale und wirtschaftliche Schieflage in der EU an »Brüssel« erst die Europamüdigkeit, Enttäuschung und das Erstarken von rechtspopulistischen und rechtsextremen politischen Kräften EU-weit. Hier haben wir unsere, linken Vorschläge eingebracht. Beispielsweise mit unserer Forderung nach EU-weiten Mindestlöhnen und einer Sozialen Fortschrittsklausel oder der Beteiligung der Banken an der Bewältigung der Krisenfolgen, nach Beendigung von Troika-Austeritätspolitik, nach Stärkung der demokratischen Kontrolle auf allen politischen Entscheidungsebenen und die Wiedergewinnung des öffentlichen Raumes gegenüber neoliberalen Marktmechanismen.

Ein zweites großes Thema war und ist die Ukraine-Krise, bei der wir viel Zustimmung für unsere Position erhielten, den Konflikt friedlich, ohne Einmischung von außen und unter Beteiligung aller Seiten zu lösen, einschließlich eines partnerschaftlichen Verhältnisses zur Russischen Föderation. Und nicht zuletzt ging es um das Freihandelsabkommen EU-USA, dessen dramatische Folgen immer offensichtlicher werden. Es waren übrigens ganz wesentlich auch wir als Linke im EU-Parlament gemeinsam mit Nichtregierungsorganisationen, die TTIP in die Öffentlichkeit gebracht haben.

Auf dem Parteitag der LINKEN Anfang Mai hat es eine deutliche Ablehnung des TTIP gegeben. Also eine folgerichtige Reaktion?
Ich habe auf einer Wahlkampfveranstaltung auf ein Plakat der Europäischen Linken verwiesen: »Mit einem Fuß im Parlament, mit tausend Füßen auf den Straßen«. Was heißt, dass mit der Übertragung der Entscheidungskompetenzen an die EU-Institutionen, also Rat und Parlament, heute sehr viel mehr Menschen sehr wach verfolgen, was in internationalen Handelsverträgen wie dem TTIP vereinbart werden soll – anders als es vorher kaum jemanden interessierte, was die Bundesregierung mit den USA oder z.B. Pakistan hinsichtlich Investitionsschutz oder Waren- und Dienstleistungsaustausch bilateral vereinbarte. Das TTIP, aber auch alle anderen gegenwärtig ausgehandelten oder im Verhandlungsstadium befindlichen umfassenden Freihandelsverträge, wie z.B. das EU-Kanada-Abkommen (CETA) oder die Verträge EU-Ukraine, EU-Japan, EU-Indien, EU-ASEAN-Staaten haben konkrete Folgen für die Volkswirtschaften der beteiligten Staaten. Allein das TTIP hat mit dem Fakt, dass hier die zwei größten Marktmärkte der Welt miteinander eine umfassende Handels- und Investitionspartnerschaft herstellen wollen, mit weitreichenden Auswirkungen auf die gesamte Welthandelsarchitektur und dies in »vertraulichen«, intransparenten Verhandlungen, Besorgnis, Zweifel und Ablehnung dieses Vorhaben bei sehr vielen Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks geweckt. Zu Recht, schließlich könnte dieses Abkommen gravierende Auswirkungen auf ihren Alltag, ihre Lebensgewohnheiten, ihre Arbeitsbedingungen und die Umwelt, die Sicherheit und Standards von Produkten und Dienstleistungen haben. Wenn die LINKE diese Kritik aufnimmt und auch in die Parlamente trägt, ist das gut und sinnvoll. Zumal wir im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts generell einen Neuansatz der internationalen Handelspolitik und ein kritisches Überdenken der Handelsstrategie 2020, wie sie vom neoliberalen Handelskommissar DeGucht Anfang der letzten Legislaturperiode vorgelegt und von der Kommission beschlossen wurde, brauchen.

Momentan hat man den Eindruck, dass die Kritik am TTIP von allen Parteien getragen wird und dies kein Alleinstellungsmerkmal der LINKEN ist.
Ich würde sagen: Es gibt nach knapp einem Jahr Verhandlungen, die 5. Verhandlungsrunde fand ja gerade in dieser Woche in Washington statt, eine vorsichtig nuancierte Positionierung anderer Parteien bei einem wesentlichen Punkt der Verhandlungen. Es ist beabsichtigt, die sogenannte Investoren-Staats-Schiedsgerichtsbarkeit in diesem Abkommen aufzunehmen. Mit anderen Worten: Konzerne können Staaten verklagen, wenn sie ihre Profiterwartungen nicht erfüllt sehen. Auch daran entzündet sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, und das bringt auch den Druck anderer politischer Parteien hervor. Allerdings bleibt abzuwarten, ob die sehr deutlichen Worte von Wirtschaftsminister Gabriel, der sich ja damit von der Mandatserteilung der Bundesregierung noch unter Merkel/Rösler distanziert, in der Realität Bestand haben. Zumal sich Gabriel klar für die Fortsetzung der Verhandlungen ausspricht. Die kritischen Worte könnten auch nur der Europawahl am Wochenende geschuldet sein. Und das was in Bezug auf den Investoren-Staats-Schiedsgerichtsbarkeit-Mechanismus (ISDS) im TTIP jetzt von allen kritisch gesagt wird, hat schon keinen Bestand mehr beim CETA-Abkommen oder auch beim EU-China- Investitionsabkommen, wo ich als EP-Berichterstatter meine Forderung nach Herausnahme von ISDS aus dem Verhandlungsmandat nicht gegen die Mehrheit von Konservativen und Sozialdemokraten durchsetzen konnte.

In einem nd-Interview hat vor kurzem Sylvia-Yvonne Kaufmann von möglichen gemeinsamen Schnittmengen zwischen Linken und deutschen Sozialdemokraten im zukünftigen Europäischen Parlament gesprochen und hierbei explizit auf das TTIP verwiesen. Ich kann das nur begrüßen, muss dann aber zugleich daran erinnern, dass nur zwei der 23 SPD-Abgeordneten in der letzten Plenartagung in Strasbourg gegen eine Verordnung der Kommission zu den Schiedsgerichten gestimmt haben, mit der etwas technisch geregelt werden soll, was wir doch im Interesse der Demokratie für immer vom Tisch haben möchten. Hier haben wir offensichtlich also noch eine Menge Arbeit zu leisten.

Ist das Abkommen wirklich noch von beiden Seiten gewollt?
Es ist von beiden Seiten gewollt. Die Botschaft, die Angela Merkel und Barack Obama bei ihrem jüngsten Washington-Besuch ausgesandt haben, weist klar in diese Richtung. Es geht um die Begründung einer neuen Stufe der transatlantischen wirtschaftlichen Kooperation als geostrategische Antwort auf globale Verschiebungen in der internationalen Machtbalance, mit der man sich in Washington und Berlin seit geraumer Zeit konfrontiert sieht.Und ich nehme die Ankündigung, dass die Beiden Verhandlungsseiten ein Ergebnis bis Ende 2015 haben wollen, ernst.

Strikt abgelehnt wird von der LINKEN auch der einseitige Kurs der EU gegenüber der gegenwärtigen Regierung in Kiew. Die Entmachtung des Ex-Präsidenten Janukowitsch faktisch als faschistischen Putsch hinzustellen, greift wohl aber etwas kurz.
Ja, ich bin kein Anhänger dieser unter Linken in der EU weit verbreiteten Vereinfachung. Es ist natürlich unstrittig, dass in Kiew auch Faschisten an der Macht sind und auch bewaffnet Krieg gegen die Regionen im Südosten der Ukraine führen. Natürlich bleibt es für uns Linke eine zentrale Aufgabe, die Kollaboration von Politik und Wirtschaft mit Faschisten in Europa immer und überall zu thematisieren und zu bekämpfen, also auch in Ungarn, Italien, Frankreich und anderen EU-Staaten. Bezüglich der Ukraine greift diese These aber zu kurz. Der Maidan begann auch als ein durchaus berechtigter sozialökonomischer Protest und wurde zugleich über Jahre hinweg mit Finanzmitteln aus den USA und der EU sowie ihrer Mitgliedstaaten auch vorbereitet und »gesteuert«. Für eine richtige Analyse müssen wir die Interessenlagen der Akteure herausarbeiten. Das Problem mit der These vom faschistischen Putsch besteht genau darin, dass man sich dann festfährt mit der Annahme, es sei ein »Verkehrsunfall« der Geschichte. In und um die Ukraine vollziehen sich für mich aber Entwicklungen, in der alle Seiten im Sinne ihrer Interessen nicht Fehler machen, sondern sehr logisch und konsequent agieren.

Worum geht es?
In dem Land prallen führende Vertreter zweier unterschiedlicher Kapitalismusvarianten aufeinander. Die eine Variante ist die des sich libertär gebenden amerikanischen und EU-Kapitalismus, die versucht, eine ökonomische Weltdominanz festzuschreiben und die verschiedensten Staaten an dieses Model zu binden. Dem stehen Vertreter hiermit konkurrierender, aufstrebender Volkswirtschaften wie z.B. China, Indien, Russland und andere gegenüber, deren nachholende Entwicklung, also deren wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Aufschwung davon abhängt, wie man sich der Globalisierung der Machtinteressen der USA und der EU widersetzen kann. Diese Variante ist eher durch autokratische, nicht dem westlichen »Modell« folgende innergesellschaftliche Entwicklung gekennzeichnet. Russland geht in vielen Fragen heute noch einen solchen gesellschaftlichen Weg, den es nach außen mit militärischer Macht absichern will. Nach russischen Quellen geht das aber nur, wenn der russische Militär-Industrie-Komplex auf das Engste verbunden bleibt mit dem analogen Komplex in der Ukraine. Gelingt es, die Ukraine aus der Kooperation mit Russland herauszubrechen und irgendwie an die NATO zu binden, wächst nicht nur die mittelbare sondern auch die unmittelbare Bedrohung für Russland, denn es würden auch die aktuellen Waffensysteme betroffen sein. Ich bin der Überzeugung, dass es in der Krieg-Frieden-Frage hier nicht nur um den möglichen Bürgerkrieg in der Ukraine geht sondern genau auch darum, diesen interessengetriebenen Widersprüchen und Konflikten eine friedliche Entwicklungsrichtung zu geben.

In der Öffentlichkeit, auch in der LINKEN, werden solche Hintergründe aber kaum wahrgenommen.
Vielleicht besteht zu viel Unsicherheit und zu wenig Bereitschaft, klassische Schwarz-Weiß-Muster bei der Beurteilung der Situation zu verlassen. Mit den Ereignissen seit dem Referendum auf der Krim, der Verlagerung der Proteste und Auseinandersetzungen in die östlichen und südöstlichen Regionen, eines weiteren Zerfaserns der ukrainischen staatlichen Verfasstheit und der Nichtbereitschaft in Kiew und anderswo, die handelnden Menschen in dem Land, unabhängig von ihrer Orientierung auf eine West- und Ostbindung, ernst zu nehmen, erleben wir gegenwärtig je nach machtpolitischer Verortung der agierenden Kräfte eine mehr als problematische Phase auch der geistigen und politischen Aufspaltung der ukrainischen Gesellschaft: wer nicht mit uns ist, ist gegen uns. Die Spirale dreht sich weiter. Und auch der von der OSZE in Gang gesetzte Mechanismus eines Runden Tisches wird nur dann überhaupt eine Aussicht auf Erfolg haben können, wenn wirklich alle Akteure gegenwärtiger gesellschaftlicher Auseinandersetzungen einbezogen werden. Hier hat auch die EU versagt. Deutliche Worte wären angebracht. Das, was gerade junge Menschen anfänglich auf dem Maidan im letzten Jahr wollten – Schluss mit Korruption, sozialer Verelendung und für eine eigenständige Entwicklung im Land – wird nicht zu erreichen sein, wenn sich die gleichen Oligarchenstrukturen jetzt wiederum mit anders zusammengesetzten polit-Eliten, und das noch unter Einbeziehung rechtsextremer und profaschistischer Strukturen zusammentun und eigene Machtpfründe zu sichern versuchen. Es geht eben nicht um Pro-EU oder Pro-Russland, sondern um das künftige soziale Gefüge einer Ukraine als Bindeglied zwischen der EU und der Russischen Föderation.

Wie muss der künftige Kurs der EU gegenüber der Ukraine aussehen?
Das Assoziierungsabkommen und das noch nicht ratifizierte Freihandelsabkommen dürfen nicht mit den heutigen Machteliten auf den Weg gebracht werden. Die EU bliebe sonst verbunden mit einseitiger Parteinahme und damit außen vor, was die Unterstützung einer künftigen Neuausrichtung der innen- und außenpolitischen Entwicklung des Landes betrifft. Und die kann nur erfolgen, wenn die Präsidentschaftswahlen am Sonntag einen realen Einstieg in den Ausstieg aus der Gewaltspirale im Land ermöglichen und damit eine neue Etappe der gesamtgesellschaftlichen Verständigung über die Zukunft des Landes eröffnen. Da kommt dann auch dem neuen Europäischen Parlament große Verantwortung zu.

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