Nicht legal, aber legitim
Sezessionen und Völkerrecht im Fall der Krim
Sezession - also Abspaltung von Staatsteilen, Zerfall von Staatenverbünden und daraus resultierende neue Staaten - ist in der Geschichte der Neuzeit nichts Ungewöhnliches. Es ist keine Übertreibung, dass die Staatenwelt der Gegenwart zu einem großen Teil Ergebnis von Sezessionsprozessen ist, angefangen mit der Sezession der USA von Großbritannien durch die Unabhängigkeitserklärung von 1776 und den Sieg im Unabhängigkeitskrieg.
Der Konflikt um die Krim und in der Ostukraine ist kein Einzelfall. Der kleine Kontinent Europa steckt voller akuter und latenter Sezessionskonflikte. In Schottland steht im September eine Volksabstimmung über die Loslösung von Großbritannien bevor, deren Ergebnis von beiden Seiten akzeptiert werden soll. In Nordirland und Wales ist England mit weiteren Separationsbestrebungen konfrontiert. Im Baskenland und in Katalonien wirken starke Kräfte für staatliche Unabhängigkeit von Spanien und Frankreich, das zudem mit Unabhängigkeitsbewegungen auf Korsika zu tun hat. Italien muss sich der Sezessionsbestrebungen in der Lombardei und auf Sardinien erwehren.
Die Abspaltungen Abchasiens und Südossetiens von Georgien, als selbstständige Staaten werden außer von Russland nur von wenigen Staaten anerkannt. Die Zugehörigkeit Tschetscheniens zur Russischen Föderation wird nach wie vor von Separatisten infrage gestellt. Transnistrien hat sich von Moldawien separiert, ohne einen sicheren staatlichen Status erreicht zu haben. Der flämisch-wallonische Konflikt in Belgien ist weit mehr als ein Sprachenstreit. Die Liste ist nicht vollständig.
Das geltende Völkerrecht bietet - abgesehen von der Liquidation des imperialistischen Kolonialsystems und seiner Ablösung durch formal unabhängige Staaten - weder im vertragsrechtlichen noch im gewohnheitsrechtlichen Bestand eindeutige Regelungen über Sezessionen. Die unterschiedliche, oft gegensätzliche Praxis und Rechtsauffassung der Staaten machten die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht zu dieser Materie unmöglich. Völkerrechtlich unproblematisch sind Sezessionen, die vom abspaltungswilligen Staatsteil mit dem »Mutterstaat« vereinbart oder von ihm gebilligt werden. Der »Normalfall« ist aber, dass sich Staaten der Sezession von Teilen ihres Territoriums widersetzen und sie in ihrem innerstaatlichen Recht ausschließen. Eine Ausnahme waren die sowjetischen Verfassungen von 1936 und 1977, die gleichlautend bestimmten: »Jeder Unionsrepublik bleibt das Recht auf freien Austritt aus der UdSSR gewahrt.«
In Bezug auf Sezessionen besteht ein Spannungsverhältnis zwischen zwei gleichermaßen verbindlichen Grundsätzen des Völkerrechts. Das ist einerseits das Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten, das die Unverletzlichkeit der territorialen Integrität der Staaten einschließt. Andererseits geht es um das Prinzip der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker mit dem Recht, frei und ohne Einmischung von außen über ihren politischen Status zu entscheiden.
Beide Grundsätze sind in der UN-Charta verankert und werden in der Erklärung der Prinzipien des Völkerrechts von 1970 näher umrissen. Ich halte es für unzulässig, die Sezession der Krim von der Ukraine und ihre Aufnahme in die Russische Föderation sowie die Sezessionsbestrebungen in der Ostukraine nur unter dem Aspekt der territorialen Integrität zu beurteilen und das ebenso zwingende Selbstbestimmungsrecht außer Acht zu lassen. In der Prinzipienerklärung wird bestimmt, »bei ihrer Auslegung und Anwendung sind die vorstehenden Grundsätze voneinander abhängig; jeder Grundsatz ist im Zusammenhang mit den anderen Grundsätzen zu verstehen«.
Zum Selbstbestimmungsrecht heißt es in der Erklärung: »Die Gründung eines souveränen und unabhängigen Staates, die freie Assoziation mit einem unabhängigen Staat, die freie Eingliederung in einen solchen Staat oder der Eintritt in einen anderen, durch ein Volk frei bestimmten politischen Status sind Möglichkeiten der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts durch das betreffende Volk.« Dann wird einschränkend erklärt, dass diese Bestimmungen nicht so auszulegen sind, »als ermächtigten oder ermunterten sie zu Maßnahmen, welche die territoriale Unversehrtheit oder die politische Einheit souveräner und unabhängiger Staaten … ganz oder teilweise auflösen oder beeinträchtigen würden.«
Dazwischen steht ein Aber: Diese Schutzbestimmung für Souveränität und territoriale Integrität soll für Staaten gelten, »die sich gemäß dem oben beschriebenen Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker verhalten und die daher eine Regierung besitzen, welche die gesamte Bevölkerung des Gebiets ohne Unterschied der Rasse, des Glaubens oder der Hautfarbe vertritt«. Das kann man vom Verhalten des Staates Ukraine und seiner gegenwärtigen Regierung gegenüber dem russischen Teil seiner Bevölkerung nicht behaupten.
Nach der dubiosen Neuwahl des Präsidenten haben die Kiewer Machthaber mit brutaler Waffengewalt im Osten der Ukraine eine Situation geschaffen, die man nicht anders denn als Bürgerkrieg bewerten kann. Dafür gelten Art. 3 der Genfer Konventionen von 1949 und das II. Zusatzprotokoll von 1977, die den Schutz der Zivilbevölkerung gebieten und Angriffe auf sie und auf einzelne Zivilpersonen und lebensnotwendige Objekte verbieten.
Es gibt im Völkerrecht kein allgemeines Recht von Teilen der Bevölkerung eines Staates auf einseitige Sezession gegen den Willen des »Mutterstaates«. Das könnte den Zerfall der Staatenwelt in unzählige Subjekte begünstigen, die internationalen Beziehungen destabilisieren und völlig dem Diktat imperialistischer Großmächte ausliefern. Dem steht das in die Souveränität eingeschlossene Recht jedes Staates auf territoriale Integrität entgegen.
Sezessionen sind aber auch nicht generell völkerrechtlich verboten. In der Völkerrechtswissenschaft wird mehrheitlich die Auffassung vertreten, dass in Ausnahmefällen ein Recht auf Sezession unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht anerkannt werden muss. Ein solcher Fall ist dann gegeben, »wenn die Rechte der betroffenen Bevölkerungsgruppe dauerhaft und schwerwiegend verletzt werden und ein Autonomiestatus von dem Staat verweigert wird …, wenn eine Situation absolut untragbar für ein Volk nicht nur in der Gegenwart sondern auch ohne Aussicht auf Besserung in der Zukunft ist, und kein anderer Ausweg sich anbietet.« (Norman Paech/Gerhard Stuby) Mit der Diskriminierung und Verfolgung russischstämmiger Menschen durch die gegenwärtigen Kiewer Machthaber ist die Ostukraine nahe an einen solchen Ausnahmefall gekommen.
Die Sezession der Krim von der Ukraine war nicht mit dem Prinzip der Achtung der territorialen Integrität vereinbar. Das bleibt so, auch wenn man in Rechnung stellen muss, dass der Westen seit dem Epochenumbruch 1990/92 in steigernder Stufenfolge legitime Interessen Russlands mit Füßen getreten hat.
Aber aus historischen und sicherheitspolitischen Gründen und auch unter dem Aspekt des Selbstbestimmungsrechts war die Rückkehr der Krim zu Russland zwar nicht legal, aber legitim. Volksabstimmungen in sezessionswilligen Gebieten sind - falls sie nicht vertraglich vereinbart oder vom Sicherheitsrat beschlossen werden - keine Angelegenheit, über die das Völkerrecht zu befinden hat. Sie haben somit keine direkte völkerrechtliche Relevanz. Sie können aber - wenn sie demokratischen Kriterien standhalten - Indikatoren für den Selbstbestimmungswillen der betreffenden Bevölkerung sein, die nicht ignoriert werden dürfen. Im Fall der Krim war dieser Wille eindeutig.
Der oft nicht auflösbare Widerspruch zwischen dem Schutz der territorialen Integrität von Staaten und dem Anspruch von Bevölkerungen auf Selbstbestimmung über unabhängige Staatlichkeit bringt umso mehr zwei andere gleichermaßen verbindliche Prinzipien des Völkerrechts für die Behandlung von Sezessionskonflikten ins Spiel: Erstens das Prinzip, dass die Staaten in ihren internationalen Beziehungen auf die Anwendung und Androhung von Gewalt verzichten. Eine Sezession darf nicht durch militärische Gewalt eines anderen Staates erzwungen werden. »Ein sich aus einer Aggression ergebender Gebietserwerb« wäre nach Art. 5 der allgemein verbindlichen Aggressionsdefinition der UN »nicht rechtmäßig und darf nicht als rechtmäßig anerkannt werden«.
Russland hat auf der Krim jedoch keinen Aggressionsakt gegen die Ukraine begangen. Es hat auch keine Annexion der Krim durch Russland stattgefunden, wie westliche Politiker und Medien verlautbaren. Eine Annexion ist nach der Prinzipien-Deklaration die Aneignung von Territorium eines Staates »durch einen anderen Staat als Ergebnis der Androhung oder Anwendung von Gewalt«. Das trifft für die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation nicht zu.
Dagegen war die Abtrennung Nordzyperns von Zypern eindeutig ein Aggressionsverbrechen der Türkei, das die NATO ihrem Mitglied und die EU ihrem Beitrittskandidaten nicht weiter übel nehmen. Die faktische Abtrennung Kosovos von Serbien war eines der Ergebnisse des völkerrechtswidrigen Aggressionskrieges der NATO gegen Jugoslawien. Zweitens das Prinzip, »dass die Staaten ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so beilegen, dass der Weltfriede, die Internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.«
Dieses Prinzip verweist auf »Verhandlung, Untersuchung, Vermittlung, Vergleich«, auf die »Inanspruchnahme regionaler Abmachungen und Einrichtungen« (wie die OSZE) oder andere friedliche Mittel nach Wahl der Konfliktparteien. Die Verhängung von »Strafen« und Sanktionen gegen Russland ist nicht nur sinnlos und laut Altbundeskanzler Helmut Schmidt »dummes Zeug« und geeignet den Konflikt zu verschärfen, sondern zudem völkerrechtswidrig, weil die Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung verletzt wird.
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