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»Nie genug vom Wahlbetrug!«

Vor 25 Jahren verhinderte die DDR-Staatsführung Proteste von Bürgerrechtsgruppen gegen Wahlfälschungen

  • Karl-Heinz Baum
  • Lesedauer: 3 Min.

Berlin. »Nie genug vom Wahlbetrug!« - Mit diesem Slogan wollten am 7. Juni 1989 mehrere Bürgerrechtsgruppen in Ost-Berlin vom Konsistorium der Kirche Berlin-Brandenburg zum Staatsrat der DDR ziehen. Sie wollten selbst ermittelte Ergebnisse der Kommunalwahl vom 7. Mai abgeben - ganz andere als die DDR-Wahlkommission bekannt gemacht hatte. Eine geringere Wahlbeteiligung hatten sie ermittelt und erheblich mehr Nein-Stimmen. Dabei waren DDR-Kommunalwahlen ohnehin keine Wahl. Eine Stimme war dann gültig, wenn der Stimmzettel gefaltet in der Wahlurne lag.

Einen Monat lang hatten die Bürgerrechtler versucht, die falschen Ergebnisse korrigieren zu lassen. Sie schrieben Eingaben an den Staatsrat, stellten Anzeigen wegen Wahlfälschung beim Generalstaatsanwalt der DDR. Vergebens. Dabei war Wahlfälschung nach der Gesetzeslage auch in der DDR strafbar: »Wer als Mitglied einer Wahlkommission (...) das Ergebnis einer Wahl zur Volkskammer, zu den örtlichen Volksvertretungen, eines Volksentscheids oder einer Volksbefragung verfälscht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft.« Doch davon wollte die DDR-Führung nichts wissen. Sie war seit Jahrzehnten an Ergebnisse mit 99 Prozent Beteiligung und 99 Prozent Ja-Stimmen gewöhnt - bewiesen sie doch angeblich die Einheit zwischen Partei und Bevölkerung.

Staatsanwälte erklärten Bürgern auf ihre Anzeigen wegen Wahlfälschung, es bestehe »kein Straftatverdacht«. Deshalb gebe es kein Strafverfahren. Dabei hatte selbst der Evangelische Kirchenbund, dem die acht Landeskirchen angehörten, Anfang Juni das offizielle Ergebnis - wenn auch milde - kritisiert und »eine Weiterentwicklung des Wahlverfahrens« gefordert, damit jeder Bürger »aktiv Auswahlentscheidungen treffen kann«. Dies betraf künftige Wahlen. In der Erklärung stand auch: »Übertriebene Aktionen und Demonstrationen sind kein Mittel der Kirche.«

Die Vertreter der Gruppen, die die Beobachtung der Auszählung in den Wahllokalen organisiert hatten, wollten die SED indes nicht so billig davonkommen lassen. Sie sahen die Glaubwürdigkeit der SED schwer erschüttert, wenn sie noch Wahlen mit einer Einheitsliste fälschen musste. Sie riefen zur Demonstration vom Konsistorium zum Staatsrat auf, etwa einen Kilometer voneinander entfernt.

Die Demonstranten kamen an diesem 7. Juni allerdings nicht weit: Hundertschaften Polizisten und Staatssicherheitsleute in Zivil riegelten das Gelände vor der Kirchenverwaltung ab. Journalisten wurden angewiesen, den »polizeilichen Handlungsraum« zu verlassen und ihre Arbeit sofort einzustellen. Ein Dutzend Leute wurde festgenommen.

Die anderen Demonstrationsteilnehmer schlugen sich zur Sophienkirche durch, drei Kilometer nördlich. Als sie nach einer Andacht die Kirche verließen, drückten Stasi-Leute sie an eine Hauswand. Sie setzen sich auf den Boden und hielten Transparente hoch, auf denen etwa zu lesen war: »Nie genug vom Wahlbetrug« und »Hier ruht die Demokratie«. Alle wurden festgenommen, konnten aber die Erklärung für den Staatsrat an Journalisten geben. Darin hieß es, tausende Wahlbeobachter hätten festgestellt, dass in fast allen Städten der DDR von Rostock bis Erfurt und Dresden offizielle Ergebnisse einen erheblichen Schwund der Nein-Stimmen im Vergleich zu denen in den Wahllokalen zeigten.

Tags darauf, am 8. Juni, waren alle Festgenommenen wieder freigekommen, wie Berlin-Brandenburgs Propst Hans Otto Furian mitteilte. Er kündigte an, die Kirche werde die Unterlagen dem Staatsrat übergeben. Erst das rüde Eingreifen der Staatsmacht veranlasste die zögerliche Kirche, sich beherzt an die Seite der Opposition zu stellen. Die Rechnung der DDR-Führung, man werde mit diesen Gegnern und ihren Vorwürfen schon fertig, ging nicht mehr auf. Statt ein paar Oppositioneller war nun die Evangelische Kirche der Gegner. Zudem beschlossen die Gruppen, an jedem siebten eines Monats gegen den Wahlbetrug zu demonstrieren - nicht mehr in Kirchen, sondern zentral auf dem Alexanderplatz. Noch heute meinen viele, dass dieser 8. Juni der Anfang vom Ende der DDR war. epd/nd

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