Furcht gegen Albtraum

Chilenen und Brasilianer mögen sich nicht - nun treffen sie im Achtelfinale aufeinander

  • Maik Rosner, Teresópolis
  • Lesedauer: 4 Min.
Brasilien und Chile wollten ein gemeinsames Achtelfinale unbedingt vermeiden - nun dürften vor allem die Nerven dieses Spiel der Angstgegner entscheiden.

Der Sommer ist zurückgekehrt in die Bergwelt der Serra dos Órgãos, ins Quartier der brasilianischen Nationalmannschaft in Teresópolis. Doch als Zeichen des Himmels wollten selbst die abergläubischen Kicker des Gastgeberlandes das plötzlich wohlig-warme und heitere Ambiente im Trainingszentrum Granja Comary nicht werten. Bloß nicht das Schicksal herausfordern, vor dem Achtelfinale gegen Chile an diesem Samstag in Belo Horizonte. Lieber die Götter milde stimmen, mit einem Empfang von Kindern aus Familien, die 2011 Opfer verheerender Erdrutsche mit Hunderten Toten in Teresópolis wurden.

Chile also, das ist für die Brasilianer ungefähr so schlimm wie Halbfinalspiele gegen Italien für die deutsche Mannschaft. Bloß nicht Chile, das war die Ansage der Seleção, lange bevor dieses Schauerstück tatsächlich auf die Agenda rückte. Jetzt werden all die alten Geschichten neu erzählt, von üblen Tretereien oder gar einer Rasierklinge, mit der sich Chiles Torwart Roberto Rojas 1989 selbst verletzte, um den Abbruch eines Spiels gegen Brasilien zu erzwingen.

Die jüngste Overtüre für die aktuelle Verabredung liegt etwas mehr als ein halbes Jahr zurück. Luiz Felipe Scolari war für sie zuständig, in einem wohl unbedachten Moment. Auf die Frage, ob er Weltmeister Spanien oder den WM-Zweiten Niederlande in einem Achtelfinale mehr fürchte, antwortete Brasiliens Trainer nach der Gruppenauslosung im Dezember: »Chile! Gegen die zu spielen, ist ein einziger Schmerz. Jede europäische Mannschaft wäre mir lieber als diese Chilenen. Ich hoffe, sie kommen nicht weiter. Und ich hoffe erst recht, dass wir nicht gegen sie spielen müssen.«

Scolari versucht nun, seine ungeschickt offenbarte Furcht vor dem gemeinsamen Achtelfinale wieder einzufangen. Jedenfalls so gut es geht, ohne dabei unglaubwürdig zu erscheinen. »Ich wollte Chile nicht, denn ich kenne die Chilenen und die Schwierigkeiten, die meine Mannschaft mit ihnen hatte«, sagte der 65-Jährige nun zurückhaltender. »Wir dürfen uns nicht viele Fehler erlauben. Chile ist ein großartiges Team. Sie haben viel Qualität und sind sehr gut organisiert.« Der sonst so kontinuierliche Scolari scheint deshalb sogar seine Stammelf umzubauen. Fernandinho statt des zuletzt formschwachen Paulinho soll allem Anschein nach im zentralen Mittelfeld mit Luiz Gustavo dagegenhalten.

Scolari weiß aber auch, dass dieses Spiel vor allem die Nerven entscheiden dürften, noch mehr als in den drei Auftritten zuvor, bei dieser von immensen Erwartungen der Landsleute aufgeladenen WM. Drei Psychologinnen begleiten die Mannschaft. Sie dürften stark damit beschäftigt gewesen sein, so galant wie möglich das früh geäußerte Horrorszenario des Trainers in positives Denken umzuwandeln. An diesem Samstag könnte schon alles vorbei und die Mission Hexacampeão gescheitert sein. Oder aber, das Spiel wird zur Motivationsspritze: Ein Sieg gegen den Angstgegner könnte Brasiliens Auswahl bestenfalls bis zum Gewinn des sechsten WM-Titels tragen. Schwarz oder weiß - für Grautöne ist gerade wenig Platz.

Die Brasilianer sind übrigens nicht allein mit ihrem mulmigen Gefühl. Auch Gegner Chile wollte dieses Achtelfinale unbedingt vermeiden. Nicht nur, weil es gegen den Gastgeber geht. Sondern auch, weil es bei den drei bisherigen K.o.-Duellen gegen den Rekordweltmeister stets klare Niederlagen setzte, zuletzt ein 0:3 vor vier Jahren, ebenfalls im Achtelfinale. Als das »härteste Los«, hat Arturo Vidal Chiles Albtraum bezeichnet. Aber der ehemalige Leverkusener meint auch nicht überraschend, dass seine »Treibjagdkämpfer« für die Seleção noch ein bisschen unangenehmer sind. »Wir wollten nicht gegen Brasilien spielen. Aber Brasilien wollte noch viel weniger gegen uns spielen«, sagte er, »ich glaube, dass wir sie schlagen können. Wer dieses Spiel gewinnt, wird dann auch richtig weit kommen.« Und außerdem: Wer Weltmeister Spanien besiegt, der könne das auch gegen die Gastgeber schaffen, befand Vidal, sofern der Schiedsrichter sie denn lasse.

Die Nerven, der Schiedsrichter und Neymar, das könnten die Schlüsselelemente des Spiels werden. Es wird spannend sein zu beobachten, wie das Federgewicht Neymar mit den robusten Attacken der Chilenen zurechtkommt - und ob der 22-Jährige dabei von seiner Neigung absieht, irgendwann selbst auszuteilen, wenn ihm ständig jemand auf die flinken Füße steigt. Sein künftiger Kollege beim FC Barcelona, Chiles Kapitän Claudio Bravo, hat Letzteres schon angekündigt, wenngleich eher im übertragenen Sinne. »Wir haben die Spieler und das Können, um ihnen weh zu tun. Wir werden ihnen Schaden zufügen«, sagte der Torwart.

Noch gibt sich Neymar locker. »Ich verspüre keinen Druck. Vielleicht fehlt mir dafür das Sinnesorgan«, witzelte der kickende Popstar. Da hatte er sicher schon vernommen, was von höchster Stelle von ihm und seinen Kollegen erwartet wird. »Wir sind alle zuversichtlich, dass es gegen Chile eine weitere große Vorstellung geben wird«, twitterte Staatspräsidentin Dilma Rousseff. Ob Sieg oder WM-Aus, sicher scheint: Es wird ein Tag der Schmerzen.

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