Tarifvertrag kurz vor Toresschluss

Die DGB-Gewerkschaften erreichen nicht immer die 8,50 Euro Stundenlohn in ihren neu abgeschlossenen Einigungen

  • Rainer Balcerowiak
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Mindestlohn ist verabschiedet, bis Ende des Jahres kann der Mindestlohn per Tarifvertrag unterschritten werden. Manchmal geschieht das auch.

Der DGB und die Einzelgewerkschaften haben empört auf die weiteren Ausnahmen vom gesetzlichen Mindestlohn reagiert, die von den Regierungsfraktionen CDU/CSU und SPD kurz vor der Verabschiedung vereinbart wurden. Der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske warf der Koalition sogar vor, den Mindestlohn »mit der Vielzahl von Ausnahmen brutal amputiert« zu haben.

Allerdings sind es die Gewerkschaften auch selbst, die mit Arbeitgeberverbänden über Tarifverträge verhandeln, mit denen die im Prinzip ab dem 1. Januar 2015 geltende Lohnuntergrenze in einigen Branchen ausgehebelt werden soll. Denn der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht vor, dass Flächentarifverträge, die auf Antrag beider Tarifparteien für allgemeinverbindlich erklärt werden, noch bis Ende 2016 Vergütungen unterhalb von 8,50 Euro pro Stunde beinhalten können. Das betrifft sowohl in der Vergangenheit geschlossene Verträge als auch solche, die bis spätestens Ende 2014 ins Arbeitnehmerentsendegesetz aufgenommen werden.

Bislang gibt es in vier Branchen Vereinbarungen, bei denen die Lohnuntergrenze auch im kommenden Jahr unter 8,50 Euro liegen wird. Betroffen sind Wäschereidienstleistungen sowie die ostdeutschen Tarifgebiete für Pflegekräfte, Gebäudereinigung und Leiharbeit. Die Verträge wurden allerdings schon vor der Koalitionsvereinbarung über einen gesetzlichen Mindestlohn geschlossen.

Ein Sonderfall ist das Friseurhandwerk, für das aufgrund der schwachen Tarifbindung die Voraussetzungen für die Aufnahme in das Entsendegesetz nicht vorlagen. Die Vereinbarung zwischen einigen Innungen und der Gewerkschaft ver.di wurde im November 2013 auf Grundlage des Tarifvertragsgesetzes für allgemeinverbindlich erklärt.

Quasi kurz vor Toresschluss versuchen Gewerkschaften und Unternehmerverbände in bislang kaum tariflich gebundenen Bereichen jetzt noch Flächentarifverträge abzuschließen. Denn die Zeit drängt: Das Prozedere vom Tarifabschluss bis zur Aufnahme ins Entsendegesetz und zur Rechtskraft durch Veröffentlichung im Bundesanzeiger dauert mehrere Monate, und am 31. Dezember 2014 ist Zapfenstreich.

Mit dem dicksten Brocken ist die IG BAU beschäftigt. Sie verhandelt mit mehreren Arbeitgeberverbänden über Tarifverträge für 800 000 Beschäftigte der Land-, Forst- und Gartenbauwirtschaft. Dazu gehören auch die saisonalen Erntehelfer. Gewerkschaftssprecher Ruprecht Hammerschmidt räumte auf Nachfrage ein, dass bei den Verhandlungen für einige Beschäftigtengruppen im Zuge der Verhandlungen Vergütungen vereinbart werden könnten, die zunächst unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns liegen. Durch Erhöhungen in mehreren Stufen wolle man allerdings sicher stellen, dass die 8,50 Euro bereits vor Ende 2016 erreicht werden. Tarifverträge, die dies nicht beinhalten, werde man nicht unterschreiben. Dann müssten die Unternehmen eben sehen, wie sie mit 8,50 Euro ab Anfang 2015 klarkommen. Die von der Koalition vor einigen Tagen beschlossenen »Modifizierungen« für Saisonkräfte schätzt Hammerschmidt nicht als gravierend ein. Denn dabei gehe es um die mögliche Anrechnung von Kost und Logis und die Befreiung von Sozialabgaben und nicht um die eigentliche Lohnhöhe.

Ähnlich sieht man das bei der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Es sei positiv, dass man beispielsweise den quasi tariflosen Zustand bei der Fleischverarbeitung beendet habe, und man werde den gesetzlichen Mindestlohn für alle Beschäftigten der Branche bereits vor Ende 2016 erreichen. Denkbar seien noch ähnliche Vereinbarungen im Hotel- und Gaststättengewerbe und im Bäckerhandwerk, doch man sehe sich dabei keineswegs unter Druck, so NGG-Sprecherin Karin Vladimirov gegenüber »nd«.

Keinerlei Bewegung gab es dagegen bei den Zeitungszustellern. Die Verlage hatten Gespräche über einen Mindestlohntarifvertrag kategorisch abgelehnt. Beim Taxigewerbe gebe es zwar Gesprächsbereitschaft, doch bislang existiere kein tariffähiger Arbeitgeberverband, erklärte ein ver.di-Sprecher auf Anfrage.

Reinhard Bispinck, der das Tarifarchiv des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der DGB-nahen Hans-Böckler-Stiftung leitet, findet es vertretbar, dass die Gewerkschaften in einigen Bereichen temporäre Ausnahmen vom Mindestlohn akzeptieren, um im Gegenzug dort verbindliche tarifliche Strukturen zu etablieren. Viele Unternehmerverbände hätten »einfach hoch gepokert« und darauf gesetzt, dass es für ihre Branchen Ausnahmeregelungen gibt. So gesehen säßen die Gewerkschaften jetzt am längeren Hebel. Bispinck geht allerdings davon aus, dass viele Unternehmen versuchen werden, sowohl den gesetzlichen Mindestlohn als auch die allgemeinverbindlichen Tarifverträge zu unterlaufen, z.B. durch Scheinselbstständigkeit. Da hänge es dann vor allem von der Qualität der Kontrollen ab, ob Lohndumping durch die Hintertür verhindert werden könne.

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