Russland und der Westen

Ein Land zwischen den Stühlen

  • Anastasia Müller
  • Lesedauer: 10 Min.

Ich betrete die Bundeskunsthalle in Bonn, um eine Ausstellung in Augenschein zu nehmen, auf die ich so lange gewartet habe: »Kasimir Malewitsch und die russische Avantgarde«. Ich bleibe vor einer Glasvitrine stehen, in der handgeschriebene Notizen des Künstlers zu sehen sind. Feine, tanzende Buchstaben, vermutlich mit einer Feder eilig aufs nun vergilbte Blatt niedergeschrieben. Gedrängte Gedanken, gelebte Geschichte. Ein Gefühl der vollkommenen Zufriedenheit überkommt mich, denn ich verstehe das Aufgezeichnete, das vor meinen Augen liegt.

Nun tauche ich ein in die Zeit, die Malewitsch dazu verleitete, am Vorabend der russischen Revolution Folgendes zu befinden: »Als Selbsterkenntnis in der rein utilitaristischen Vollendung des ›Allmenschen‹ im allgemeinen Lebensbereich haben sie eine weitere Bedeutung bekommen: das Schwarze als Zeichen der Ökonomie, das Rote als Signal der Revolution, und das Weiße als reine Wirkung.« Will der Westen das heutige Russland verstehen, bieten sich Malewitschs Aufzeichnungen als eine wahre Fundgrube an.

Bestes Agitprop ziert eine Wand der Ausstellung. Als der moralische Nimbus Europas im Abnehmen begriffen war, entwarf Malewitsch eine Fülle von Plakaten, die an Litfaßsäulen zur Aufklärung der Öffentlichkeit, zumeist der einfachen Massen, angebracht wurden. Grimassen eines tölpelhaft wirkenden deutschen Soldaten blicken einem entgegen, der verruchte Weltkrieg von 1914 bis 1918 wird in glanzvoller Manier durch burleske Reime ins Lächerliche gezogen.

Was Stefan Grossmann in seinem Brief an Ernst Toller zum Abschluss des Vertrages von Brest-Litowsk als die allmähliche »Stück für Stück erfolgende Waffenstreckung« Lenins bezeichnete, ist mit Hinblick auf die ausgestellten Propaganda-Plakate und deren deutliche Botschaft in Frage zu stellen. Man kann über Lenin sagen, was man will: Sein unumstößliches Bekenntnis zu der russischen Revolution und die Mission, die für ihn daraus erwuchs, schmälerte die Existenzberechtigung eines habgierig gewordenen Europas. Dieses, so Lenins Überzeugung, werde ohnehin in den Verbund der Sowjetunion integriert. Seine moralische Autorität als Schöpferin von Kulturwerten habe es längst verwirkt. Tatsächlich ist in dieser Richtung auch in den künstlerischen Kreisen um Malewitsch gedacht und gearbeitet worden, wenn auch von zwei antagonistischen Gesichtspunkten her.

Schien ein Konzept der Ausweitung des nationalen Rahmens und der Rückbesinnung auf eine gesamteuropäische Überlieferung denkbar, so bestätigte die Oktoberrevolution letztlich die Vorstellung, dass die europäische Kultur keine angemessene Basis für die Beurteilung der russischen Verhältnisse biete. Zu besonders seien die politischen und kulturellen Umwälzungen Russlands, zu besonders die Rolle, die dem russischen Proletariat dabei zugefallen war. Wenn eine Annäherung an Europa postuliert wurde, so doch einschränkend, mit einem Verweis auf eben diese Eigentümlichkeit der russischen Denkungsart, die in Europa ebenso viel Staunen wie Befremden hervorrief.

Auf das Fehlen einer begrenzten Zielstrebigkeit in der russischen Geschichte oder gar eines rechten Maßes verwies Simon Frank 1925 in seinem Aufsatz »Entweder alles oder nichts«. Demnach sei die Differenziertheit, die Abgesondertheit einzelner Gebiete und Werte des westlichen Lebens dem russischen Geist fremd und unbekannt. Nicht etwa wegen seiner Einfältigkeit, sondern weil es seinem innersten Wesen widerspräche.

Gegen die Ablösung vom nationalen Boden führte auch der avantgardistische Schriftsteller Andrej Bely die Feder. In seinem Buch über Berlin vom März 1924 »Eine Wohnung im Schattenreich« glaubt der Schriftsteller hinter den Fassaden der europäischen Wohlanständigkeit und Ordnung nur Abscheuliches und Widerwärtiges zu entdecken, denn »alles ist umgekrempelt - vom gesunden Verstand in den Wahnsinn; und zwar so pedantisch, dass die Organisation des Systems dieser Wahnsinnigkeiten sich darbietet als die kleinliche Nüchternheit des gesunden Verstandes…«

Mochten die klotzige Schwerfälligkeit des russischen Alltags, die Geducktheit, die Angst um die eigene Haut, die sich mit der zunehmenden Radikalisierung der Bolschewiki breit machte, auch noch so erdrückend wirken. Das uneingeschränkte Bekenntnis zu Russland liest sich stets als eine bewusste Abkehr von dem unbekannten, undeutlichen und hypothetischen Westen. Bezeichnenderweise verband die Idee von der Fremdheit der westlichen Kultur für Russland und von einer besonderen historischen Mission des letzteren beide Lager der russischen Intelligenz, sowohl der prowestlichen als auch der prosowjetischen.

Darin mag eine besondere Weitsicht der Bolschewiki begründet liegen: Ging das zaristische Russland am Anspruch, beide Perspektiven in Einklang zu bringen, zugrunde, konnte sich die Sowjetunion als der Nachfolgestaat auf die Bindekraft einer gemeinsamen Idee, einer Mission berufen und so zumindest über einen längeren Zeitraum hinweg auf einen hinreichenden Widerhall in der Bevölkerung hoffen.

Freilich wäre es verfehlt, die politisch-ideologischen Divergenzen innerhalb der russischen Eliten zu verkennen. Sie waren und blieben stets Ausdruck eines Konfliktes, in dem es um die Zugehörigkeit zu politischen Gruppierungen und kulturelle Domestikation Russlands ging. Weltpolitisch betraf dies vor allem die Orientierung der Sowjetunion zwischen West und Ost, Europa und Asien.

Im Jahre 1926 veröffentlichte Anatoli Lunatscharski, der langjährige Volkskommissar für Bildung, einen Aufsatz, dem er den programmatischen Titel »Zwischen Ost und West« gab. Darin bekräftigte er den Anspruch der Sowjetunion, eine besondere, ja unbestreitbare Mittlerrolle zwischen West und Ost zu übernehmen, die er durch die geografische Lage und ihre zivilisatorische Kraft legitimiert sah. Den Errungenschaften des Humanismus und Sozialismus eingedenk, die der europäischen Zivilisation erwachsen seien und nunmehr einer Verwirklichung in der Sowjetunion zustrebten, sollte die Asiatisierung Europas vielmehr einer Europäisierung Asiens weichen. Keine Befreiung Asiens also, die sich nicht als Befreiung Europas vorbereitete; keine Verwirklichung eines weltumspannenden Sozialismus, der nicht europäisch gedacht werden wollte. Das Verstörende an Lunatscharskis Vision ist dann auch die gleichermaßen verklärende wie anmaßende Bestimmung Russlands, eine Doppelrolle zu übernehmen, der man so nicht gewachsen war.

Die anfänglichen Erfolge bei den wirtschaftlichen und militärischen Leistungen der Sowjetunion in den 50er und 60er Jahren, in der technologischen Entwicklung, im Bereich der Wissenschaften und die Führungsposition im Bereich der Naturwissenschaften, die 1957 im Start des ersten Erdsatelliten »Sputnik« gipfelte, konnten einem solchen Enthusiasmus keinen Abbruch tun. Sie mussten aber zwangsläufig zu unüberwindbaren Widersprüchen führen, an denen sich bis heute die russischen Eliten verzehren.

Als sich der Verlust der Mission mit dem Untergang der Sowjetunion abzeichnete, setzte sich im Westen die Vorstellung durch, die russische Geschichte werde sich nunmehr in Europa vollziehen. Der Eindruck bestätigte sich, als sich das postsowjetische Russland zu den westlichen Werten bekannte und von der eigenen kommunistischen Vergangenheit loszusagen versuchte. Der ideologische Kampf mit dem Westen war verloren, der technologische Entwicklungsrückstand nicht mehr aufzuholen. Die Begeisterung, die vor allem in den Kreisen liberal gesinnter Intellektueller um sich gegriffen hatte, war so auch Ausdruck einer eklatanten Geschichtsvergessenheit.

Nicht nur vergaßen die russischen Eliten ihr Volk, sie verkannten zugleich, dass sich die Aufhebung der absoluten Wahrheit und des absoluten Heils, durch die der sowjetische Bürger erst seinen Wert erhielt, fataler auf die innere Stabilität Russlands auswirken würde, als man es ahnte. Das Vakuum, in dem sich die Menschen befanden, füllten plumpe Werbekampagnen aus: die MMM-Aktien der Bank der Brüder Mawrodi, der im Kellergeschoss der Ersten Twerskaja-Jamskaja-Straße gebraute »Cognac Napoleon« von Michail Chodorkowski, die giftgelbe Hühnerbrühe »Galina Blanka«, minderwertige Zigaretten mit Minzegeschmack, Kaugummis, Damenbinden und amerikanische Action-Filme waren die Attribute einer neuen Zeit.

In einem Roman von Wiktor Pelewin, dessen Titel »Generation P« programmatisch für das Neue steht, findet sich der Held Wawilen, Wawa genannt, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Verkäufer in einem Kiosk wieder. Nicht ohne einen leichten Anklang von Apathie stellt er fest: »Als die Ewigkeit verschwand, fand ich mich in der Wirklichkeit wieder.« Das kleine, vergitterte Fensterchen des Kiosk, das eine natürliche Grenze zwischen Außen und Innen darstellt, wird zum Referenzrahmen, zum Maßstab, an dem Wawa mit dem ihm eigenen Zynismus und Schlitzohrigkeit das Neue misst.

Dass das Neue oftmals in Form der Karikatur erscheint, mag daran liegen, dass all die noch so dramatischen Veränderungen nicht zwangsläufig mehr Freiheit bringen. Die von Gorbatschow eingeläutete »Glasnost und Perestroika« musste zur Farce verkommen, weil sie nicht als Freiheit des Ganzen, sondern als Freiheit der Einzelnen gelebt wurde.

Der russische Lyriker Alexander Blok hätte dies wohl mit dem Bewusstsein, fehl geordnet zu sein und das Morgen nicht zu kennen, umschrieben. Darin dürfte sich die Reformpolitik Gorbatschows unglücklicherweise kaum von den ersten demokratischen Bemühungen auf dem russischen Boden, denen sich Plechanow widmete und die die Bolschewiki ins Gegenteil verzerrten, unterscheiden. Dabei galten ihre Imperative einer Befreiung des Menschen von den Fesseln des Kommunismus.

Die Freiheit, über die Russlands Kultur verfügt, bestand eben nicht nur darin, das Fremde zu negieren, sondern auch dem Eigenen eine Existenzberechtigung abzusprechen. Die baulichen Vorhaben der Bolschewiki, ganze Dörfer, Städte, Landschaften, Kultur, das Denken einzelner Intellektueller und schließlich der ganzen Intelligenz von Grund auf zu verändern, umzukrempeln und zu zerstören, legen ein bedrückendes Zeugnis davon ab. Für das Volk wie seine Vertreter gilt nach wie vor das Alles oder Nichts.

Wenn im heutigen Russland um die Wahl von politischen Vorbildern und Zukunftsperspektiven gerungen wird, so sind das sich selbst Genügen und eine Rückbesinnung auf die eigene Geschichte angesagt, da die Annäherung an Europa als gescheitert gilt - zumindest zeitweilig.

Bei seiner Rede im Bundestag, die der russische Präsident Putin 2001 in deutscher Sprache hielt, ließ er noch verlauten, dass sich niemand und auch Russland nicht in die Vergangenheit umwenden könne. Die alten Stereotypen und Ressentiments wurden spätestens mit dieser ausführlichen Rede zu Grabe getragen. Das Recht auf Partizipation an demokratischen Prozessen, die von Europa ausgingen und Russland mit Hoffnung erfüllten, bekräftigte Putin ebenso wie das gegenseitige Interesse Europas und Russlands, ohne dabei die deutsch-amerikanische Freundschaft in Frage zu stellen.

Dem Konzept der Unipolarität, das sich nach dem Zerfall der Sowjetunion etablierte und von allen beteiligten Akteuren gemeinhin anerkannt wurde, stellte Putin sechs Jahre später auf der Sicherheitskonferenz in München das von seinem heutigen Kritiker Jewgeni Primakow angepriesene Modell der multipolaren Welt entgegen. Putin wurde nicht müde, darauf hinzuweisen, dass ein Kraftzentrum im Entstehen begriffen sei, das für diejenigen, die sich im Rahmen dieses Systems bewegten, ebenso vernichtend wie unannehmbar sein werde.

Damit widerlegte er zugleich die Ansicht, Russland habe sich, nachdem es die Ideologie verworfen hatte, die Einstellung zur Wahrheit, so wie sie der Westen tradierte, angeeignet. Die Folgen, die ein solch ambitioniertes Vorhaben Russlands auf die politischen Konstellationen hatte, zeitigten eine negative Wirkung, die sich im notorischen Unverständnis und rhetorischer Unzulänglichkeit des Westens einerseits und im sturen Beharren Russlands auf eigener Wahrheit andererseits manifestiert.

Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Jelzin konnte Putin zumindest innenpolitisch an Ansehen gewinnen. Durch die Austragung der Olympischen Spiele in Sotschi und die Einverleibung der Krim, die auch in Russland kontroverse Debatten verursachte und als rein politische Entscheidung gewertet wurde, konnten nicht nur nationale Eitelkeiten befriedigt werden. Der Anspruch Russlands, nicht länger als eine vernachlässigbare Größe wahrgenommen zu werden, wurde dabei unterstrichen.

Was im Westen als offensives und ausuferndes Auftreten interpretiert wird, gilt in Russland als Demonstration einer selbstständigen russischen Politik. Die zwischen dem Westen und Russland wirksam werdenden Gegensätze und Konflikte können insofern ausgetragen werden, als dass der Westen eine Kompromissbereitschaft zeigt, die die Ausbildung einer einheitlichen politisch-kulturellen Identität Russlands toleriert und nicht behindert.

Letztlich genügt ein Blick in die russische Geschichte. Die weist eine Gleichzeitigkeit von Konservatismus und Liberalismus, von einem Verharren im »Alten« und dem Durchbruch zum »Neuen«, vom Festhalten an archaischen Lebensformen, vom Hang zum Nihilismus, von Aberglauben und dem entschiedenen Befürworten eines Fortschritts auf. Allenfalls steht es außer jedem Zweifel, dass Russland, wie es Alexander Block einmal sagte, ein großes Schiff ist, dem eine lange Reise bevorsteht.

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