Reform des Bürgergeldes: Weimar lässt grüßen

Für Nicole Mayer-Ahuja könnte die Gängelung von Langzeitarbeitslosen fatale Folgen haben

Langzeitarbeitslosigkeit – Reform des Bürgergeldes: Weimar lässt grüßen

»Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.« So begründete Franz Müntefering (SPD) 2006 die Reform der Arbeitslosenversicherung. Begleitet von Kampagnen über Vermittlungsskandale und Betrugsfälle (»Florida Rolf«) legte die damalige rot-grüne Bundesregierung Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum neuen »Arbeitslosengeld II« (bekannt als »Hartz IV«) zusammen. Was hat das mit Weimar zu tun?

Schon zwei Jahre nach Gründung der Arbeitslosenversicherung (1927), als infolge der Weltwirtschaftskrise Massenarbeitslosigkeit herrschte, sanken ihre Einnahmen, die Ausgaben stiegen massiv an. Immer früher wurden Beschäftigte, die durch Versicherungsbeiträge ein Recht auf Arbeitslosengeld erworben hatten, »ausgesteuert«: erst in die Krisenfürsorge, dann in die Wohlfahrtsunterstützung. Die Leistungen wurden gekürzt – je mehr Geld fehlte, desto lauter geißelte man Missbrauch. Die Folgen: unterernährte Kinder, obdachlose Familien, Wahlerfolge der NSDAP. John Maynard Keynes betonte 1933 zurecht: »In einer Welt des größten potenziellen Reichtums leben wir im Elend.«

Auch um das Jahr 2000 stand die Arbeitslosenversicherung unter Druck. Neue Wege hin zu Eigenverantwortung und Aktivierung wurden verkündet, doch faktisch setzte das Regierungsgespann Schröder/Fischer (unterstützt von Automanager Peter Hartz) eine Neuauflage der autoritären Weimarer Strategie durch. Seitdem endet der Rechtsanspruch auf Arbeitslosengeld (in Prozent des vorherigen Einkommens) nach einem Jahr, bei Älteren sechs Monate später. Danach sind Leistungen an Bedürftigkeit gebunden; wer sich nicht genug bemüht, wird bestraft.

Arbeitslosigkeit gilt nicht mehr als ökonomisches und politisches Problem, sondern als Schuld der Betroffenen, die deshalb Zwang und Erziehung »verdienen«. Wer erinnert sich noch an den Zweck der Arbeitslosenversicherung: die Arbeitskraft von Lohnabhängigen zu sichern, indem man nicht sofort jeden Job (unabhängig von Lohn und Qualifikation) annehmen muss?

Mit »Hartz« stürzte die SPD ab. Nach einem Mitgliedervotum wurde das »Bürgergeld« ersonnen, Sanktionen wurden reduziert. Doch diese Umbenennung von Arbeitslosengeld II lenkte weiter davon ab, dass die Leistung mit der Sozialversicherung zu tun hat. Künftig klingt »Grundsicherung« eindeutig nach Sozialhilfe.

Konfliktfeld Arbeit

Nicole Mayer-Ahuja ist Professorin für die Soziologie von Arbeit, Unternehmen und Wirtschaft an der Universität Göttingen. Sie forscht zu Veränderungen der Arbeitswelt, auch in transnationaler Perspektive. Außerhalb der Wissenschaft ist sie linken Gewerkschafter*innen seit Langem bekannt, eine breite Öffentlichkeit erreichte sie 2021 mit ihrem Sammelband »Verkannte Leistungsträger:innen« über Fahrradkuriere, Altenpflegerinnen oder Erntehelfer, den sie zusammen mit dem Soziologen Oliver Nachtwey herausgegeben hat. Mayer-Ahuja ist die erste Akademikerin in ihrer Familie. Aktuell untersucht sie Dynamiken von Arbeit in der Klassengesellschaft. Kapitalismus beruht auf Differenz und Konkurrenz - das prägt auch die Beziehungen zwischen Kolleg*innen, den Geschlechtern oder Einheimischen und Migrant*innen. Was bringt die Arbeitenden auseinander? Und welche gemeinsamen Erfahrungen mit Lohnarbeit lassen sich trotz alledem für eine solidarische Politik nutzen, die dazu beiträgt, dass das Verbindende (zeitweise) schwerer wiegt als das Trennende? Ihr neues Buch »Klassengesellschaft akut. Warum Lohnarbeit spaltet - und wie es anders gehen kann« erscheint am 18. September bei C.H. Beck. Weitere Infos zu ihrer Arbeit finden sich auf ihrer Homepage.

Die Pläne für 2026 sind bekannt: Komplette Leistungskürzung beim ersten grundlos abgelehnten Job (2019 vom Bundesverfassungsgericht verboten); Einzug von Vermögen ohne Karenzzeit; sofortige Umzugspflicht (trotz Mangel an bezahlbarem Wohnraum). Betroffen sind keineswegs nur »Totalverweigerer« (etwa 0,6 Prozent der erwerbsfähigen Arbeitslosen). Die verschärfte Drohung mit Elend und moralischer Brandmarkung trifft alle, die um ihren Job fürchten. Sie spart kaum Geld, vergrößert aber das Machtgefälle zwischen Unternehmen und denen, die jede Arbeit akzeptieren, mehr leisten, mehr schlucken müssen, um bloß nicht an das Jobcenter zu geraten.

Studien zeigen: Wer AfD wählt, hat besonders oft Angst vor Arbeitslosigkeit und besonders wenig Einfluss auf die eigene Arbeit. Nach der »Aussteuerung« von Millionen kam 1933 der rechte Terror an die Macht. Wer das riskiert, sollte nicht regieren.

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