»Danke, dass Sie gekommen sind«

»Frieden kriegt man nicht«: Gedanken zum Buch von André Brie über Reisen zu Konflikten und Kriegen

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 8 Min.

Wenn die Kinder »kriegen« sagten, ermahnte sie die Mutter, dass es besser »bekommen« oder »erhalten« heißen sollte. Als junge Frau hatte sie am 13. Februar 1945 den Bombenangriff auf Dresden erlebt, schreibt André Brie, als Germanistin habe sie zudem genau gewusst, woher Worte kommen.

Sonja Brie, ich erinnere mich: Nach morgendlicher Zeitungslektüre meldete sie sich gern am Telefon - kaum um zu mahnen, sondern um warmherzig-klug Gelungenes zu loben. Mit ihrem Mann Horst Brie war sie für die DDR in diplomatischer Mission in China, Nordkorea, Japan, Griechenland gewesen - und hätte sich wohl kaum vorstellen können, mit welcher Besorgnis man heute die Welt betrachtet. Das Wettrüsten beenden wollte Michail Gorbatschow, auch weil das dem Land teuer zu stehen kam. Im Westen zeigte man sich dankbar über seine Versöhnungsgesten - und sah sie als Zeichen der Schwäche, was sie in gewisser Weise auch gewesen sind. Und diese Schwäche wurde ausgenutzt - zum Weiter-Siegen. »Neues Denken im Atomzeitalter« - wie verheißungsvoll hatte doch einst Gorbatschows Slogan geklungen ...

André Brie zitiert im Vorwort zum Buch den afghanischen Schriftsteller Khaled Hosseini: »Es war Krieg. Oder besser gesagt: Kriege. Nicht nur einer, nicht nur zwei, sondern viele Kriege, kleine, große, gerechte und ungerechtfertigte kamen über dieses Land. Kriege mit wechselnder Besetzung angeblicher Helden und Schurken, und mit jedem neuen Held wuchs die nostalgische Sehnsucht nach dem jeweils alten Schurken.« Was auf Afghanistan um 1990 gemünzt war, gilt heute schon für weite Teile der Welt.

Und immer näher schieben sich die Brände an den eigenen kleinen Frieden heran. So ohnmächtig fühlt man sich angesichts dieser Überfülle an schlimmen Nachrichten, die umso bestürzender sind, wenn Feuer aufflammen, wo es vorher noch einigermaßen ruhig war. Kann das vielleicht überall passieren? Wahrscheinlich ja, wenn geopolitische Interessen im Spiel sind. Die waren lange verdeckt, getarnt. Inzwischen lassen sich die Menschen schon nicht mehr so leicht täuschen.

Aber was nützt es? »Bevor der erste Gegner erschlagen, erschossen, bombardiert, getötet wird«, schreibt André Brie, »wurde und wird im Krieg die Wahrheit erschlagen.« Was Medienmacht heißt, wir spüren es gerade jetzt.

Und wenn wir uns nicht hintergehen ließen, wenn wir alles daran setzten, die tatsächlichen Sachverhalte zu erfahren? Würden wir am Gang der Dinge etwas ändern können? Bestenfalls in Massen. Aber wer hat je einen Massenprotest gesehen, der frei von fremden Machtinteressen bleibt?

Das einzige, was man sich sagen kann: dass man sich nicht für dumm verkaufen lassen will. Wer solch ein Bedürfnis hat, für den ist die Lektüre dieses Buches Gedanken weckend, erhellend, mitreißend sogar.

Als Privattourist hätte André Brie nur einen Bruchteil dessen erleben können, was er beschreibt. Er reiste als Abgeordneter des Europäischen Parlaments - allein oder auch mit Vertretern anderer Parteien und Staaten zusammen. Der Zweck: Sich möglichst genau zu informieren und dem Parlament Bericht zu erstatten. Das für den Autor selbstverständliche Prozedere ist für Außenstehende insofern aufschlussreich, als man von Ferne oft gar nicht weiß, was die Abgeordneten in Brüssel eigentlich machen, während wichtige Entscheidungen (siehe Freihandelsabkommen) ohne ihr Zutun fallen.

Wobei man von André Brie glauben kann, dass er besonders aktiv war - nicht nur als Vertreter der Vertreter der Vereinten Europäischen Linken, sondern aus seinem eigenen Naturell heraus: etwas tun, Verbindungen knüpfen. Dafür hat er alle möglichen Beschwernisse in Kauf genommen, wie hier zu lesen ist. Vorstellbar auch, dass sich andere gar nicht so sehr darum gerissen haben, tagelang mit dem Auto durch Afghanistan oder Irak zu kurven, von Bewaffneten begleitet und alle paar Kilometer von Straßensperren aufgehalten.

Tagebücher von 16 Reisen in Krisengebiete, die André Brie zwischen 1991 und 2009 unternommen hat: Sie gelten mit größtmöglicher Genauigkeit dem, was er erlebte, was er beobachtete, was man ihm berichtete, und enthalten nur knappe Kommentare seinerseits. Ursprünglich waren sie ja nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Beim Zusammenstellen des Buches hat sich der Autor Leser vorgestellt, die sich für Weltpolitik interessieren und schon selber über vieles nachgedacht haben.

Wer die täglichen Nachrichten verfolgt, wird manches wissen, sich an manches erinnern, aber auch feststellen, dass inzwischen einiges vergessen und verdrängt worden ist. Oder dass man es eben doch nicht so genau durchgeholt hat, weil sich eigene Sichten dazwischengeschoben haben. Man will sich die Welt doch irgendwie »sortieren«, sich vielleicht sogar entscheiden für die eine oder andere Seite. Bei der Lektüre werden einem die Schwierigkeiten bewusst. Denn jeder macht ja Gründe geltend, den anderen zu bekriegen. Kosovo-Albaner (darüber die erste Reportage) hatten sich lange serbischer Vorherrschaft zu erwehren. Aber kann das so weit gehen, dass Siedlungen der Serben inzwischen militärisch geschützt werden müssen?

Bruderkrieg - diese Texte lesend, bekommt man eine Vorstellung davon. Wie leicht es offenbar ist, Menschen gegeneinander aufzubringen, wenn sie arm sind und unter Ungerechtigkeiten leiden, wie oft nur ein winziger Funke genügt, ein schreckliches Feuer anzufachen. Dass sowas von alleine hochgeht, wenn sich genügend Konfliktstoff angesammelt hat, meinen die einen, dass da aber auch Brandfackeln geworfen werden, sagen die anderen. Zu welchem Zweck? Unruhen und Kriege scheinen Nutzen zu bringen, um Machtverhältnisse neu zu definieren und, häufiger noch, um in unauflöslichen Konflikten als Ordnungsmacht willkommen zu sein. Und so seinen Fuß erst einmal drin zu haben in einem fremden Land. Das betrifft vorrangig die USA, aber auch andere Länder, auch die EU. Wobei André Brie immer wieder vor Augen führt, wie viele vernünftige Leute mit großer Sachkenntnis da etwas zum Besseren zu wenden versuchen.

Als EU-Vertreter kann er sich im Januar 2009 - es ist die letzte beschriebene Reise - mit allen Botschaftern der EU-Länder in Irak zusammensetzen. Das sind kluge, erfahrene Leute, wie man sich denken kann. Überhaupt, wo es nur immer geht, sucht er das Gespräch: mit Regierungsvertretern der jeweiligen Länder, mit Oppositionellen, mit Stammesfürsten, Warlords, mit Ärzten, Vertretern diverser Nichtregierungsorganisationen, Frauenrechtlerinnen, auch mit US-Soldaten und deutschen Polizisten. Weil er weiß, dass es in diesen Ländern verschiedene Ethnien gibt, will er sich mit verschiedenen Seiten konsultieren. Viele Stimmen, die einander oft auch widersprechen.

Immer wieder Rufe nach mehr europäischer Hilfe und manchmal auch nur der aus tiefster Bewegung geäußerte Satz »Danke, dass Sie gekommen sind«. So zu hören im kurdischen Halabja, das unter Saddam Hussein 1988 mit Giftgas angegriffen wurde. Ein lange verschwiegenes Verbrechen, im »nd« gab es vor Jahren, wie ich jetzt sehe, einen großen, profunden Text darüber. Aber irgendwie ist es mir wohl nicht so zu Bewusstsein gekommen.

Wissen und Begreifen sind eben zweierlei. Das merkt man immer wieder beim Lesen. Man weiß von israelischen Sperranlagen im Gaza-Streifen und im Westjordanland. Denkt auch eine Vorstellung davon zu haben, was diese oft viele Meter hohen Mauern für Palästinenser bedeuten, die von ihren Feldern, oft sogar von Wasser abgeschnitten sind, gleichsam eingemauert. Ghettoisiert, das Wort darf man getrost verwenden. Dass es schlimm ist, dürfte vielen klar sein, aber nicht wie schlimm. Dafür muss man es wohl gesehen und mit Betroffenen gesprochen haben. Wer André Bries Tagebücher von verschiedenen Reisen nach Israel und Palästina gelesen hat, wird gegenwärtigen Konflikten an die Wurzel gehen, aber kaum noch Illusionen hegen, dass sie leicht zu lösen sind.

Leichte Lösungen gibt es nirgendwo. Und für die Forderung, das Ausland möge sich da ganz und gar heraushalten, ist es vielerorts leider auch schon zu spät. Also Gerangel in Ewigkeit?

Und die Lehre daraus? Nur für den Privatgebrauch natürlich, weil jenseits globaler Vernunft ökonomische und politische Interessen regieren. Menschenrechtsverletzungen werden von der hiesigen Öffentlichkeit ja vornehmlich in jenen Ländern registriert, an denen westliche Interessen bestehen. Wo es nicht so ist, wird von außen auch nicht nach Demokratie und Frauenrechten gefragt. Doch abgesehen davon: Wäre es besser, autokratische Regime trotz herrschender Grausamkeiten als etwas hinzunehmen, was von innen heraus überwunden werden muss, möglicherweise in einer längeren historischen Entwicklung? Wenn die Opposition fortschrittlicher Intellektueller allein noch nichts bewirken kann, soll man sie dann auch alleine lassen? Wie können wir einschätzen, ob das, was auf die Zerschlagung einer Autokratie folgt, nicht noch viel schlimmer ist?

Frieden »kriegt« man nicht, klar, aber kann Demokratieentwicklung nicht doch irgendwie beschleunigt werden? Solche Beschleunigung von außen hat es ja auch immer wieder in der Geschichte gegeben. Nur wiegen eben in den beschriebenen Krisengebieten die kleinen Bewegungen zu mehr Rechtsstaatlichkeit und Demokratie den Schaden nicht auf, der durch die Destabilisierung dieser Länder entstanden ist.

Demokratie als höchstes Gut? Wie soll sie wachsen auf gewaltverseuchtem Boden? Gewalt ist wirklich wie eine Seuche; auch vordem friedliche Leute werden angesteckt. Können ihre Unterschiedlichkeit nicht mehr ertragen, gehen aufeinander los. Selbst wenn es ein Kalkül, wenn es Nutznießer gegeben haben sollte, irgendwann ist nichts mehr kalkulierbar, verselbstständigt sich der gegenseitige Hass. Müssen neue Grenzen gezogen werden, um verfeindete Kräfte voneinander zu trennen? Wer sollte das tun? Wie sollte es Einverständnis geben, wenn jeder das Ganze will? Bahn frei für jegliche Abspaltung? Ethnische Säuberungen würden folgen. Und Feindschaft zwischen Staaten, die einst zusammengehörten.

Was können wir glauben? Worauf können wir hoffen? Hatten wir Illusionen, haben wir uns getäuscht?

André Brie: Frieden kriegt man nicht. Über Reisen zu Konflikten und Kriegen. VSA Verlag. 250 S., br., 24,80 €.

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