Keine Außerirdischen mehr im Sattel

Selbst den sicheren Toursieger Vincenzo Nibali, der auch die letzte Bergetappe gewann, entlastet der Doping-Radar

  • Tom Mustroph, Hautacam
  • Lesedauer: 4 Min.
Auf der letzten Bergetappe verliert Alejandro Valverde, letzter Überlebender der dopingberüchtigten Generation, seinen Podiumsplatz. Es gewann Vincenzo Nibali, der auch den Gesamtsieg so gut wie sicher hat.
Tom Mustroph, Radsportautor und Dopingexperte, berichtet mittlerweile zum 13. Mal für »nd« von der Tour de France.
Tom Mustroph, Radsportautor und Dopingexperte, berichtet mittlerweile zum 13. Mal für »nd« von der Tour de France.

Reinwaschung in den Pyrenäen. Hunderttausende Zuschauer hatten sich in die mal Nebel verhangenen, mal der gleißenden Sonne ausgesetzten Gipfel begeben, um die Tourfahrer zu empfangen. Es waren etwas weniger Zuschauer als gewohnt. Das Tourorgan »L'Equipe« gab in den Tagen zuvor den französischen Zuschauern wegen zu geringer Anwesenheit im Vergleich zum Auftakt in Yorkshire nur vier von möglichen zehn Punkten. In den Pyrenäen wurden vor aber allem die orange gekleideten Euskatel-Fans vermisst. Ihr Rennstall hatte sich Ende der letzten Saison aufgelöst.

Die Zuschauer, weiterhin nicht wenige, die sich ins südeuropäische Grenzgebirge bewegt hatten, durften sich über zumindest eine Sache freuen: Unter den Fahrern, die sie bejubelten, befinden sich keine Außerirdischen mehr. Laut fünf verschiedenen Radar-Kontrollen, die der französische Sportwissenschaftler Antoine Vayer eingerichtet hatte, blieb selbst ein so dominierender Mann wie der voraussichtliche Gesamtsieger Vincenzo Nibali hinter den Leistungen seiner - häufig genug mit Epo schneller gemachten - Vorgänger zurück. In den Vogesen, auf der Planche des Belles Filles, kam Nibali im historischen Vergleich nicht an Chris Froome und Bradley Wiggins heran. Die späteren britischen Toursieger brauchten vor zwei Jahren 22 und 20 Sekunden weniger als der italienische Astana-Profi. Ihre Leistungswerte lagen laut Berechnungen Vayers auch tatsächlich im tiefen grünen, also »menschlichen« Bereich.

Auf der 13. Etappe nach Chamrousse konnte Nibali sich mit Lance Armstrongs Leistung aus dem Jahre 2001 messen. Er unterlag um deutliche 2:17 Minuten. Auch die Leistungswerte lagen deutlich auseinander. Für Armstrong errechnete Vayer 439 Watt. Das fällt in seine Kategorie »wundersam«. Nibali leistete Kletterarbeit für 405 Watt - in Vayers Skalierung ist dies weiterhin »menschenmöglich«. Beim Aufstieg nach Pla d'Adet, auf dem 17 Tagesabschnitt der Tour, blieb die aus dem Jahr 1993 stammende Bestzeit des Polen Zenon Jaskula ebenfalls nicht angetastet. Die Differenz blieb aber knapper. Nur 58 Sekunden blieben Nibali und sein Begleiter Jean-Christophe Peraud zurück. Beide erreichten hier auch die Schwelle von 410 Watt, bis zu der für Vayer Leistungen noch im »humanen« Bereich liegen.

Stirnrunzeln löste jedoch die 16. Etappe nach Bagneres de Luchon aus. Der dort überfahrene Port de Balés war der bislang einzige, den die aktuellen Tourfahrer schneller bestiegen als ihre Vorgänger. Mit 32:52 Minuten war der Franzose Thibaut Pinot 1:08 Minuten schneller als das bisherige Rekordtrio Denis Mentschow, Samuel Sanchez und Alberto Contador. Nibali schlug sie um 1:04 Minuten. Alle Achtung! Bei Mentschow wurden später verdächtige Blutwerte festgestellt. Contador wurde der Toursieg wegen einer positiven Clenbuterolprobe aberkannt.

Sie waren an diesem Tag auch nicht wie Radtouristen durch die bezaubernde Berglandschaft gefahren. Im ersten Teil des Anstiegs hatten Andy Schlecks bärenstarke Teamkollegen Jens Voigt und Stuart O'Grady für zügiges Tempo. Als dann drei Kilometer vor dem Gipfel die Kette vom Rad des Luxemburgers sprang, enteilten Contador, Sanchez und Mentschow. Weil allerdings die Werte von Contador & Co an diesem Tage von Vayer auf 401 Watt taxiert wurden, darf auch hier der Alarm abgeblasen werden. Vayer, zahmer geworden als noch im letzten Jahr, als er große Zweifel bei Chris Froome anmeldete, konkretisierte auf Nachfrage von »nd« weiter. »Die Differenz wurde bereits am ersten Teil des Bergs erreicht, als Team Movistar Tempo machte. Hier war die Gruppe um Pinot und Nibali 1:15 Minuten schneller als Contador & Co.«

Am Donnerstag hatten die zuvor noch so schnellen Movistar-Männer dann nichts mehr zum Zusetzen. Sie mussten erleben, wie ihr Mannschaftskapitän Alejandro Valverde am Anstieg von Hautacam in der Gesamtwertung als Vierter hinter die beide Franzosen Pinot und Peraud zurückfiel . Das ist pikant. Einer der letzten Überlebenden der dopingberüchtigten Generation kann mit den neuen Stars nicht mehr mithalten. Das Gute ist, dass die Daten der »Neuen« auch für den Kritiker Vayer in den Bereich des ungedopt Möglichen fallen. Ob diese Leistungen von ungedopten odert doch von gedopten Körpern erbracht wurden, will Vayer freilich nicht entscheiden. »Meine Daten geben nur einen Kontext vor. Gegenwärtig ist der Kontext aber ermutigend«, sagte er »nd«. Lediglich bei Nibali war Vayer skeptischer: »Er fährt hier in einer eigenen Liga.«

Dies konnte man auch ohne Datenmessungen erkennen. Am Aufstieg nach Hautacam ließ der Italiener erneut seine Begleiter stehen. Dieses Mal ließ er auch dem Polen Rafal Majka nicht die Freude eines weiteren Etappensiegs, dem der überraschend starke Tinkoff-Mann entgegenstrebte. Nibali fing ihn ein und holte sich seinen vierten Tageserfolg. Der Toursieg ist ihm nun ganz sicher. Daten über seine Performance an diesem letzten Berg lagen bei Redaktionsschluss noch nicht vor. Wie die Dinge aber bisher lagen, dient Vayers Bergradar in diesem Jahr der Entlastung der Radprofis. Im letzten Jahr wegen seinen Warnungen gescholten, wird Vayer nun vielleicht Radprofis Liebling.

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