Minderheit einer Minderheit einer Minderheit

Jeside, Kurde, Gastarbeiterkind - Telim Tolan hatte es nicht leicht in Deutschland und ist dennoch dankbar

  • Marcus Meier
  • Lesedauer: 4 Min.
In Deutschland nehmen Übergriffe und Beschimpfungen gegen Jesiden zu. Doch Telim Tolan mahnt zur Ruhe und erzählt eine Anekdote über Scheich Adi. Dabei geht es um Toleranz und Gewissen.

Nein, mit Islamisten habe er in Deutschland bis vor Kurzem überhaupt keinen Ärger erlebt. Die Probleme seien hier auch jetzt noch marginal, sagt Telim Tolan, Vorsitzender des Zentralrats der Jesiden in Deutschland, seine Worte wohl abwägend, nun, da sein bisher unbekannter und rein ehrenamtlich arbeitender Verband ins Licht der Medien geriet. In den letzten Tagen jedoch hat es üble Beschimpfungen in sozialen Netzwerken gegeben. Mehrfach wurde die Webseite Jesiden.de gehackt. Statt Informationen über den Zentralrat sah man nur eine vermummte Gestalt mit einem islam-grünen Stern auf dem Tuch, das das Gesicht vor Blicken schützte. »Fuck you«, stand daneben. Doch Tolan warnt eindringlich: »Wir dürfen uns nicht auf Provokationen einlassen, auch wenn es manchmal schwer fällt.«

Vor zwei Wochen hatten aus Tschetschenien stammende Islamisten in Herford eine Gruppe Jesiden angegriffen, die ein Plakat mit einem Demonstrationsaufruf gegen die Verfolgung der Jesiden in ein Schaufenster klebten. »Die Messerattacke muss mit der vollen Härte des Gesetzes bestraft werden«, sagt Tolan. Allerdings sieht er Vorfälle wie diese als Einzeltaten: »Für eine echte Bedrohung gibt es keine Erkenntnisse«, meint er.

All das ist ohnehin nichts im Vergleich zu dem, was seine Glaubensbrüder und -schwestern in Nordirak gerade durchleiden. Schockiert und ohnmächtig verfolgen Jesiden in Deutschland die Bluttaten der IS-Milizen im Sindschar-Gebirge. »Zum ersten Mal muss unsere Generation erleben, das Jesiden einem Pogrom ausgesetzt sind«, sagt Tolan. »Das hat ein Trauma ausgelöst.«

Dass der 42-Jährige einmal die Interessen von Jesiden in Deutschland vertreten würde, war ihm nicht an der Wiege gesungen worden. Als Kind von kurdischen Gastarbeitern mit jesidischem Glauben aus der Türkei ist er Minderheit in der Minderheit einer Minderheit. Immerhin zwischen den Zeilen deutet er an: Der Weg zum Abitur und zur Karriere als Bankkaufmann war nicht immer einfach. »Es besteht eine starke Korrelation zwischen sozialer Herkunft und Aufstiegschancen«, sagt der Oldenburger. Doch generell betrachtet er Deutschland als »Land der Chancen und Möglichkeiten«. »Wir Jesiden sind dankbar für ein Leben in Freiheit und Sicherheit.«

Die Jesiden sind eine nicht-missionarische monotheistische Religionsgemeinschaft, das Jesidentum war ursprüngliche Religion der Kurden, bevor der Islam kam. Den 2007 gegründeten Zentralrat bezeichnet Tolan als eine von mehreren Interessenvertretungen der Jesiden in Deutschland. Sein wichtigstes Ziel ist die Anerkennung als Religionsgemeinschaft mit eigenem Religionsunterricht.

Jeside kann nur sein, dessen Eltern schon Jesiden waren. Daraus leitet sich das Gebot ab, einen Ehepartner innerhalb der Gemeinschaft zu finden, die sonst in ihrer Existenz bedroht wäre. Vor wenigen Jahren wurde eine junge Jesidin in Detmold, die sich in einen Russlanddeutschen verliebt hatte, von ihrer Familie per Kopfschuss getötet. Ein Ehrenmord, wie es damals in der Presse hieß? »Mord und Ehre sind ein Widerspruch in sich«, distanziert sich Tolan. Vehement plädiert er für Toleranz. Keine Religion dürfe sich als allein selig machend betrachten. »Sonst ist man schnell dabei zu sagen, Ungläubige verdienen nur die Zwangsassimilation oder den Tod.« Der Zentralrat pflegt gute Kontakte zu beiden christlichen Kirchen und auch zu den deutschen Muslimen, »von denen nur eine kleine Minderheit extremistisch ist«, betont Tolan. Seit Jahrtausenden würden Religionen zur Rechtfertigung von Krieg und Gewalt instrumentalisiert. Auch jetzt in Irak.

Der Zentralrat hat die US-Luftangriffe gegen muslimische Terroristen in Nordirak begrüßt und spricht sich für Waffenlieferungen an die kurdischen Peschmerga-Kämpfer aus. Ziel sei eine von der UNO garantierte Schutzzone. »Denn selbst wenn die IS-Terroristen nun zurückgeschlagen werden, treiben sie weiter ihr Unwesen«, sagt Tolan. Dann erzählt er eine Anekdote über den wichtigsten Reformer der jesidischen Religion. »Scheich Adi saß mit seinen Jüngern beisammen und sagte: ›Gleich wird jemand hereinkommen und mich gewaltsam aus Eurem Kreis reißen. Bitte unternehmt nichts!‹« Adi habe sich tatsächlich ohne Gegenwehr entführen lassen. Dann betrat ein weiterer Jünger den Raum und fragte verwundert, ob der Scheich seinen Anhängern ein eigenes Gewissen untersagt habe.

»Autoritäten dürfen nicht so stark sein, dass das eigene Gewissen ausgeschaltet wird«, will Tolan damit sagen. Die Welt zeige sich solidarisch mit den irakischen Jesiden und beweise so ihr Gewissen.

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