Kaum kulante Kontrolleure

Senat empfiehlt Verkehrsbetrieben mehr Nachsicht für »unverschuldete Schwarzfahrer«

  • Robert D. Meyer
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Zahl der ertappten Berliner Fahrgäste in Bus und Bahn ohne gültiges Ticket wächst. Während BVG und S-Bahn mit mehr Kontrollen reagieren, planen die Piraten weiter den kostenlosen Nahverkehr.

Wenn Thomas Grau einen Ausflug mit seinen Enkelkindern ins Berliner Umland machen will, muss der Rentner rechnen, ob er sich die Fahrt leisten kann. Ein Anschlussfahrschein für den Tarifbereich BC kostet ermäßigt zwei Euro, für Erwachsene 2,90 Euro, für Hin- und Rückfahrt kommt da schnell eine Summe zusammen, angesichts derer er sich genau überlegt, ob seine niedrige Rente die Touren mit dem Nachwuchs besonders am Monatsende noch hergibt. Grau kann deshalb nachvollziehen, wenn andere aus finanziellen Gründen ohne gültiges Ticket Bus und Bahn nutzen.

Die Zahl der Schwarzfahrer nimmt zu: Wie aus einer Anfrage des SPD-Abgeordneten Joschka Langenbrick an den Senat hervorgeht, erwischten sowohl die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) als auch die S-Bahn im ersten Halbjahr 2014 deutlich mehr Personen ohne gültigen Fahrausweis als im Vorjahr. Zum Vergleich: Während die BVG bereits in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 171 183 Schwarzfahrer zählte, waren es 2013 nur 230 000 Personen. Allerdings räumt die BVG ein, dass die bei ihr deutlich stärker als bei der S-Bahn gestiegenen Zahlen auch mit den häufigeren Kontrollen nach einem Wechsel des dafür beauftragten Unternehmens zu tun haben.

Fakten zum Schwarzfahren
  • Berlins Verkehrsunternehmen betreiben einen wachsenden Aufwand, um Schwarzfahrer zu erwischen. Bei der BVG kontrollieren 40 eigene sowie 85 Mitarbeiter eines externen Dienstleisters die Fahrgäste. Bis Ende des Jahres sollen die externen Prüfer auf 100 Angestellte aufgestockt werden. Bei der S-Bahn sind täglich 72 bis 80 Kontrolleure im Einsatz.
  • Wer innerhalb von zwei Jahren drei Mal beim Schwarzfahren erwischt wird, gegen den erstatten BVG als auch S-Bahn Anzeige. Zusammengezählt gab es im ersten Halbjahr 2014 insgesamt 12 000 solcher Verfahren.
  • Die BVG beziffert die durch Schwarzfahren jährlich entgangenen Einnahmen auf 20 Millionen Euro, während die S-Bahn von 14 Millionen Euro ausgeht. Die Verkehrsunternehmen weisen darauf hin, dass dies lediglich Schätzungen aufgrund der stichprobenartigen Kontrollen sind. rdm

 

Betriebswirtschaftlich lohnend ist dieser Kontrollaufwand für die Verkehrsbetriebe nicht. Die Einnahmen von rund vier Millionen Euro im ersten Halbjahr durch das erhöhte Beförderungsentgelt (EBE) von derzeit 40 Euro reichen bei der BVG nicht, um die Kosten für die Kontrolleure zu decken. Zwar steht seit dem Beschluss der Verkehrsministerkonferenz der Länder im April 2013 eine Erhöhung des EBE auf 60 Euro bevor, doch das für die Umsetzung zuständige Bundesverkehrsministerium hat auf den Länderbeschluss bisher nicht reagiert.

Der Senat indes scheint aufgrund der seiner Meinung nach strengen Kontrollpraxis Angst um das Ansehen Berlins bei den Touristen zu haben - darauf deutet zumindest die Antwort von Verkehrsstaatsskretär Christian Gaebler (SPD) auf die Anfrage seines Parteikollegen hin. Konkret geht es dem Senat dabei lediglich um »unverschuldete Schwarzfahrer«, jene Personen, die beispielsweise ihre Fahrkarte auf der falschen Seite gestempelt haben oder nicht wussten, dass das Zwei-Stunden-Ticket nur in eine Richtung, aber seit 2004 nicht mehr für eine Rückfahrt gilt.

In diesen Fällen hat das »Kontrollpersonal durch die erfahrungsgemäß sehr restriktiven Vorgaben der Verkehrsunternehmen meist keine Ermessensspielräume«, so Gäbler und fordert deshalb eine Lockerung. Die BVG indes widerspricht diesem Senatsurteil. Jeder Kontrolleur könne im Einzelfall abwägen, ob er das EBE einfordert oder nicht, sagt ein Unternehmenssprecher dem »nd«.

Welche internen Maßstäbe dabei gelten, will die BVG nicht verraten, um eventuellem Missbrauch der Kulanzregeln vorzubeugen. Ohnehin würde das Verkehrsunternehmen bereits viel tun, um unverschuldetes Schwarzfahren zu vermeiden. So seien mögliche Fallstricke sowohl im Internet erklärt und würden auch an den Fahrkartenautomaten angezeigt.

Ginge es nach den Piraten, wäre mit dem Ticketwirrwarr grundsätzlich Schluss. Noch im Herbst werde die Partei eine Studie in Auftrag geben, um die Möglichkeiten eines fahrscheinlosen Nahverkehrs auszuloten, so Verkehrsexperte Andreas Baum. Spätestens Anfang 2015 wolle die Fraktion die Studie auswerten und Anträge im Abgeordnetenhaus stellen. Nicht nur für Thomas Grau käme die Umstellung auf einen durch die gesamte Bevölkerung finanzierten Nahverkehr gelegen.

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